Demokratie à la carte

Endlich ist es soweit! Für morgen ist „das Volk“ an die Urnen gerufen. Dann werden wir es wissen – zumindest, dass wir nichts Genaues wissen. Sicher ist allerdings jetzt schon, dass in den Kommentaren jede beliebige Interpretation Platz finden wird. Will tatsächlich eine Mehrheit Türen und Sozialwerke für Bulgaren und Rumänen öffnen? Herrscht bloss Sorge um den Fortbestand der restlichen „Bilateralen“, oder sollen diese am Ende gar aufgekündigt werden? Wir werden es nie genau wissen. Eine unselige Verknüpfung zweier Vorlagen verhindert eine unverfälschte Willenskundgabe.

Noch vor wenigen Jahren waren wir Schweizer stolz darauf, in einem Land zu leben, in dem „das Volk“ das Sagen hat. Wir waren uns durchaus bewusst, dass man hierzulande auf demokratischen Weg eine Monarchie oder gar eine Diktatur einrichten könnte. Doch wir vertrauten darauf, dass es in einer funktionierenden Demokratie, in der sich jeder so verhält wie man selbst, nie so weit kommt, weil sich Extreme gegenseitig aufheben und auf diese Weise eine Tendenz zum Ausgleich besteht. Aber stets war klar: Das Volk ist der Souverän, es hat das letzte Wort.

Damit scheint es vorbei zu sein: Immer häufiger werden Volksentscheide interpretiert und nach Belieben ausgelegt. Das Bundesgericht, das es nur gibt, weil es das Schweizervolk so will, hat sich in einem eigentlichen Richterputsch sogar das Recht herausgenommen, politisch unliebsame Volksentscheide aufzuheben. Die „oberste rechtsprechende Behörde des Bundes“ erhob sich selbst zum Supervisor und Lenker der Demokratie. Um diesen Titel kämpfen allerdings auch noch andere: So verweigerte eine parlamentarische Kommission, die nichts anderes zu tun gehabt hätte, als die vom Souverän angenommene „Verwahrungsinitiative“ in geltendes Gesetzesrecht umzusetzen, glatt ihren Auftrag. Angeblich wegen Unvereinbarkeit mit dem Völkerrecht. Tatsächlich stiessen sich der grüne Kommissionspräsident und einige andere linken Zeloten am Inhalt. Ich warte gespannt darauf, wie sich die gleichen Leute verhalten werden, wenn gegen die „Offroader-Initiative“ völkerrechtliche Bedenken ins Feld geführt werden, etwa wegen Verstosses gegen WTO-Bestimmungen.

Leider findet auch der Bundesrat immer mehr Gefallen an dieser „Demokratie à la carte“. Nur als Behörde zu leiten und zu vollziehen, wie es die Bundesverfassung vorsieht, genügt den ambitionierten Damen und Herren nicht mehr. Demokratie wird da rasch als hinderlich empfunden. Erst recht, wenn man mit ansehen muss, dass es im Ausland auch ohne Volksentscheide geht. Doch genau wie Cäsar seinerzeit der Republik nicht offen den Kampf ansagte, sondern sie unter Wahrung der Form zur Folklore machte, hält der Bundesrat noch an der Tradition fest, die Schweizerinnen und Schweizer regelmässig zur Urne zu rufen.

Das Entscheidende an einer Demokratie ist jedoch nicht, dass Abstimmungen durchgeführt werden, sondern dass sich die Minderheit der obsiegenden Mehrheit zu fügen hat. Und genau damit bekundet unsere Landesregierung Mühe. Bloss um einer drohenden Niederlage zu entgehen, wurde die auf den 17. Mai 2009 angesetzte Abstimmung über die Erhöhung der Mehrwertsteuer zugunsten der IV auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschoben. Ein unerhörtes Ereignis!

Wer in einer Demokratie nicht bereit ist, auch Niederlagen, die nicht ausbleiben können, einzustecken, ist ein schlechter Demokrat. Und schlechte Demokraten sind eine Gefahr für die Demokratie.

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Erschienen in der Berner Zeitung vom 7. Februar 2009

3 Gedanken zu „Demokratie à la carte“

  1. Demokratie à la carte

    Dieser Kolumnenartikel von Herrn Claudio Zanetti ist so etwas von scheinheilig, dass er schon wieder Satire sein könnte. Herr Zanetti, schauen Sie mal, was in Sachen „das Volk bestimmt!“ um Sie herum in Ihrer eigenen Partei läuft! „Schlechte Demokraten sind eine Gefahr für die Demokratie!“, rufen Sie aus. Wie wahr! Herr Zanetti, vor wie vielen Jahren wurde vom Souverän die Alpeninitiative angenommen? Und wie viel davon wurde bis jetzt verwirklicht und wie viel gerade auch durch die SVP sabotiert? Das ist unerhört! Da sieht man sehr genau, wie wenig der SVP ein Volks-Ja wert ist. Da müssen Sie gar nicht bei anderen Parteien suchen. Laut Ihrem Artikel ist die SVP also eine Gefahr für die Demokratie! Danke, jetzt weiss ich’s!

  2. Noch vor wenigen Jahren waren wir Schweizer stolz darauf, in einem Land zu leben, in dem „das Volk“ das Sagen hat. Wir waren uns durchaus bewusst, dass man hierzulande auf demokratischen Weg eine Monarchie oder gar eine Diktatur einrichten könnte. Doch wir vertrauten darauf, dass es in einer funktionierenden Demokratie, in der sich jeder so verhält wie man selbst, nie so weit kommt, weil sich Extreme gegenseitig aufheben und auf diese Weise eine Tendenz zum Ausgleich besteht. Aber stets war klar: Das Volk ist der Souverän, es hat das letzte Wort.

    Inzwischen wurde der Begriff „Land“ abgeschafft und durch den Begriff „Lebensraum“ ersetzt. Ein „Volk“ gibt es auch nicht mehr sondern nur noch Bewohner eben dieses „Lebensraumes“. Die neuen Bewohner finden aus allen Ecken der Welt zu uns, was uns dann die hochgepriesene Multikultur bringt. Diese muss man sich so als eine Art „mehrfarbiges Wasser“ vorstellen. Das Wasser macht da aber nicht mit.
    Ein Land begeht Selbstmord um besser zu leben….wir sind halt doch ein Sonderfall!

  3. Auf dem Weg zur Propagandademokratie.
    Da ich 65 bin, überschaue ich etliche Jahrzehnte politischen Lebens in der Schweiz. Noch vor 20 Jahren mischte sich der BR kaum in Abstimmungskämpfe ein. Es gab das Informationsheftli und die bundesrätliche Empfehlung, fertig. Heute investiert der BR Millionen an Steuergeldern um das gewünschte Abstimmungsergebnis zu erzielen und einzelne BR engagieren sich direkt an zahlreichen Auftritten. Man nennt das normalerweise Propaganda, der BR beliebt das noch „Information“ zu nennen. Mit der vergangenen Abstimmung zur PFZ haben wir eine Eskalation der bundesrätlichen Propagandatätigkeit erlebt hin zur Drohung und Unwahrheit (man könnte auch Lüge sagen). Die Damen Widmer, Calmy und Leuthard behaupteten wahrheitswidrig, mit einem nein würden sich die BL 1 automatisch innert 6 Monaten kündigen und das sei ganz schlecht für die Wirtschaft. Also: Zuerst eine Lüge und dann die Drohung. Es gilt, solches zu erkennen und zu bekämpfen. Ich will nicht, dass unser Land zu einer bundesrätlich gesteuerten Propagandademokratie wird. Wollen Sie das ?

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