Die SVP war nie eine extreme Partei – weder vor 100 Jahren, noch heute.

Seit über 100 Jahren steht die schweizerische Volkspartei für die ewig gleichen Werte: Freiheit des Individuums gepaart mit Eigenverantwortung und für einen eigenständigen  Weg der Schweiz – unabhängig und neutral.

Wie präsentierte sich das Umfeld, in dem unsere Ahnen 1917 die Bauern, Gewerbe und Bürgerpartei, die sich seit 1971 Schweizerische Volkspartei nennt, ins Leben riefen. Und was waren die Gründe?

Zwar sprach man damals noch nicht vom 1. Weltkrieg – zu dieser Nummerierung brauchte erst einen zweiten! Aber rund um den Globus befanden sich zwischen 1914 und 1918 Länder im Kriegszustand. Selbst Australien beteiligte sich an Kampfhandlungen. In ganzen Kontinenten begann der Kampf um Unabhängigkeit von den europäischen Kolonialmächten, und im Nahen Osten brach das osmanische Reich zusammen.

Grosse Schlachten waren geschlagen. Die Namen „Tannenberg“, „Gallipoli“, „Verdun“, „Marne“ oder „Somme“ stehen für bis dahin ungehörte Verluste. Die letztgenannte, die Schlacht an der Somme, die 1916 vom 1. Juli bis zum 18. November dauerte, war mit über einer Million getöteten, verwundeten und vermissten Soldaten die verlustreichste Schlacht der Westfront während des Ersten Weltkriegs. Alleine am ersten Tag wurden von den etwa 120.000 britischen Soldaten, die am ersten Tag der Somme-Schlacht die deutschen Stellungen angriffen, wurden über 19.000 getötet, davon alleine 8.000 in der ersten halben Stunde, und fast 36.000 verwundet.

Präsident Wilson rief zur Teilnahme am Kreuzzug der „friedensliebenden“ Demokratien gegen die „militärisch-aggressiven“ Autokratien der Erde auf.

À propos „Neutralität“. Die Schweiz war neutral. Auch Belgien war neutral, und doch war es das erste Land, das von den deutschen Truppen angegriffen wurde. Jeder Widerstand wurde mit brutaler Härte niedergeschlagen. Die erbarmungslose Gewalt auch gegen die Zivilbevölkerung führte erst recht in Grenzgemeinden, wie Rafz, zu Verunsicherung und Angst.

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Doch, auch wenn unsere Armee bereit war, für die Sicherheit und Freiheit unseres Landes einzustehen, herrschte grosse Furcht. Die Schweiz war schon damals eine Insel in einer brennenden Welt. Und, wie gesagt, niemand vermochte 1917 zu sagen, wie der Konflikt ausgehen würde.

Zwar liess der Kriegseintritt der Amerikaner an der Westfront Hoffnung aufkommen, doch dafür bereitete die Entwicklung im Osten in Russland grosse Sorgen:

In Zürich lebte zu dieser Zeit der russische Berufsrevolutionär Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt „Lenin“ im Exil. In der Absicht, die Revolution zu befeuern und Russland zu einem Separatfrieden zu bewegen, liess ihn das deutsche Reich in einem plombierten Sonderzug nach Russland reisen, wo er sich umgehend mit grossem Elan an sein zerstörerisches Werk machte. Von einem Erfolg würden einerseits die Achsenmächte profitieren. Andererseits stellte ein Sieg der Bolschewiken eine zusätzliche Bedrohung dar. Auch in den Staaten Westeuropas wuchs eine starke Linke heran, die mit der Revolution liebäugelte.

Die Verunsicherung wuchs auch in der Schweiz. Das soziale Klima verschlechterte sich während des Krieges aus verschiedenen Gründen:

Die Verknappung der Lebensmittelimporte, die Rationierung und die massive Teuerung sowie der Lohnausfall während des Aktivdienstes führten in den ärmeren Bevölkerungsschichten zu harten Notlagen.

Unwille über Kriegsgewinnler in Industrie und Landwirtschaft und pazifistische Strömungen (Max Daetwyler, Romain Rolland) bei einem Teil der Linken machten sich breit.

Gefordert wurden speziell die 48-Stunden-Arbeitszeit und die Proporzwahl zugunsten der Sozialdemokratie für den Nationalrat. Die Schweiz war im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Bezug auf die Streiktätigkeit im internationalen Vergleich keineswegs Sonderfall: Das Bürgertum fürchtete sich vor den „Roten“, die bereits die Strassen in Beschlag nahmen.

Die Notlage, politische Agitation und sozialistische Revolutionen im Ausland führten 1918 zum Landesstreik, einem Generalstreik, an dem sich vom 11. bis zum 14. November 1918 gegen 250.000 Arbeiter und Gewerkschafter aus der ganzen Schweiz beteiligten. Der eilig aufgebotene militärische Ordnungsdienst führte zu einem raschen Zusammenbruch der Streikbewegung. In Grenchen waren drei Tote zu beklagen.

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Die Zürcher SVP ist also – wie auch schon die Schweiz – in einer „arglistigen Zeit“, in einer Situation grosser Not, entstanden. Besonders für die ländliche Bevölkerung war die Zeit schwer: Seit dem Ausbau der Eisenbahnen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steckte der Bauernstand in der Krise.

Billiges ausländisches Getreide überschwemmte den einheimischen Markt. Missernten und die Einschleppung verheerender Rebschädlinge verschärften die Lage zusätzlich.

  • Auf der einen Seite gehörten mächtige Industrie-, Finanz- und Eisenbahnbarone zu den Hauptgewinnern jener Zeit.
  • Auf der anderen Seite organisierten sich sozialistische Gewerkschaften und die sozialdemokratische Partei.

Der Zürcher Bauer schrieb 1919: „Die Sozialisten wollen billige Lebensmittel, und zwar um jeden Preis, also auch dann, wenn die bäuerliche Bevölkerung dabei zugrunde geht.“

In den Vertretern des Kapitals und der Grossindustrie sah die Bauernpartei eine ebenso grosse Gefahr für den Weiterbestand der Bauernschaft.

„Auch jene wollen billige Lebensmittel, denn ’billige Lebensmittel und billige Arbeitskräfte bringen hohen Kapitalgewinn’ sagen sich die Herren.“

Trotz der drückenden Lage war die Landbevölkerung in sich nicht geeint. Politisch bekämpfte sich der bäuerlich-ländliche Mittelstand oft in unterschiedlichen Parteilagern: Die einen stimmten mit den Freisinnigen, die andern für die Demokraten.

Doch konnten und wollten diese beiden Parteien die Sorgen der Landbevölkerung je länger je weniger aufnehmen und vertreten: Nach Meinung unserer Parteigründer vertraten die Demokraten vorwiegend die Interessen von „fest besoldeten Theoretikern“, und die Freisinnigen waren „zu träge, um sich gegen den freiheitsfeindlichen Sozialismus entschieden zu wehren“.

Sie sehen: Hier haben wir die beiden Lager, zwischen denen sich die SVP fortan bewegen sollte.

Von Anfang an musste sich die Bauernpartei gegen den Vorwurf der Medien und anderer Parteien wehren, bloss als Vertretung einer Berufsgruppe egoistische Interessenpolitik zu betreiben. Nach dem Erfolg bei den ersten Kantonsratswahlen war das Medienecho umso giftiger und der Neid der anderen Parteien umso grösser.

Sie sehen: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Der Neid ist auch heute nicht geringer geworden.

Doch die Bauernpartei galt von Anfang an auch als glühendste Verfechterin der Landesverteidigung und entschiedene Verteidigerin der Demokratie, in der sie einen „festen Eckpfeiler des Staates zum Nutz und Frommen aller“ sahen.

Die Gründer der Zürcher SVP sahen mit Sorge, wie die Bürgerlichen (damals die Freisinnigen und die Demokraten) nach links schielten. So beklagte der „Zürcher Bauer“ drei Jahre vor der Parteigründung – bei den Nationalratswahlen 1914:

„In Winterthur zeigten die Bürgerlichen klar und deutlich, dass sie lieber mit der sozialistischen Partei zusammenspannen als mit den Bauern. Bei gleichem Anlass in Zürich haben wir erfahren, dass die Bürgerlichen überhaupt dem Land keine Vertretung gönnen, wo sie in städtischer Mehrheit sind.“

Es brauchte darum eine neue Kraft zwischen den beiden Lagern. Drei Hauptbeweggründe sind bei der Geburtsstunde der Schweizerischen Volkspartei klar auszumachen. Es sind:

  • Klassische standespolitische Interessen
  • Die Sammlung der bodenständigen, heimatverbundenen, freiheitsliebenden Kräfte in der bewegten Zeit des 1. Weltkrieges und am Vorabend der sozialistischen Revolution in Russland
  • Es ging um den Wert der Schweiz, um die Werte Heimat, Familie, Arbeit

Die Gründerväter sahen sich – wie sie erklärten – als Partei des „vaterlandstreuen und bodenständigen Zürchervolkes“.

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Natürlich kam es in der Geschichte der SVP auch immer wieder zu Rückschlägen. Schon Mitte der 20er Jahre ereilte auch die Bauernpartei das, was alle Parteien immer wieder durchzustehen haben: Querelen, Auseinandersetzungen und Spaltungen. Dies war jeweils dann der Fall, wenn man sich von den klaren programmatischen Grundsätzen abzuwenden begann.

Immer wieder fanden sich glücklicherweise aber auch starke Persönlichkeiten, die das Schiff wieder auf Kurs brachten: Vor Christoph Blocher, der 1977 Präsident der Kantonalpartei wurde, war das 1925 der Stäfener Rudolf Reichling, der die Anliegen seiner Vorgänger übernahm und die patriotische Ausrichtung verstärkte. Der politische Gegenentwurf zum freiheitlich-Konservativen war für ihn der Sozialismus. Hauptgegner war also die Linke, heute wären dies Sozialdemokraten und Grüne.

Das hiess in einem Satz: „Alle Bauern, Handwerker, Gewerbetreibende, sowie die auf vaterländischem Boden stehendem und dem Grundsatz des Privateigentums huldigenden Intellektuellen, Angestellten und Arbeiter wollen von ihr gesammelt werden zu vereinter Arbeit für das Gesamtwohl.“ – Daran ist nicht das Geringste extrem. Extrem müssen aber die Zeiten sein, in denen als extrem verunglimpft wird, wer für solche Werte einsteht.

Die Zürcher SVP wurde so immer mehr zur Partei all jener Leute, die mit beiden Beinen im Leben stehen und ihren Alltag stets aufs Neue erfolgreich bewältigen. Die Zürcher Schweizerische Volkspartei wurde immer mehr zur Partei des Mittelstandes und der arbeitenden Bevölkerung.

Christoph Blocher formulierte es einmal so: Wir stehen für den Mittelstand, das sind alle, die reich genug sind, um nicht von der Fürsorge abhängen zu müssen, und zu arm um ihr Geld nach Monaco bringen zu müssen.

So viel hat sich auch bis heute nicht geändert. Es ist so: Die ewige politische Grundfrage bleibt:

Wie viel Staat braucht der Mensch? Wie viel Staat – wie viel Freiheit wollen wir?

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Grundsätze bleiben bestehen – sonst wären sie keine Grundsätze. Die SVP ist die Partei der Grundsätze. Darin liegt ihre Glaubwürdigkeit und Kraft.

1922 trat die Bauernpartei mit folgenden Schlagwörtern in den Nationalratswahlkampf: „Bauernpolitik ist eine Politik der Arbeit“, „Kampf gegen Rot“ und „Verteidigung unserer Volksrechte“.

Müssten wir heute ein Komma daran ändern? Nein. Grundsätze bleiben bestehen und für Grundsätze steht man ein.

Zu den Kantonsratswahlen von 1932 trat die Bauernpartei mit der Parole an: „Für Sicherheit, Ruhe und Ordnung, für einen einfachen, gesunden Finanzhaushalt, für eine entschiedene vaterländisch-bürgerliche Politik“

Müssten wir an dieser Parole einen Buchstaben ändern? Nein.

Schon die jugendliche Bauernpartei ruhte in ihren Grundsätzen und konnte so auch später allen totalitären Versuchungen widerstehen. Sie musste sich zwischen den Extremen bewegen. Besonders aktuell war dies dann in den 30er-Jahren, als die Partei festlegte:

„Nicht Sichel und Hammer und nicht das Hakenkreuz, nicht das Dogma einer Partei und nicht die staatliche Diktatur können unsere Losung sein“. Scharen wir uns entschlossen unter dem weissen Kreuz im roten Feld, dem Symbol der Demokratie, dem Zeichen der inneren Verbundenheit und der gegenseitigen Verantwortung. In diesem Zeichen werden wir den politischen Gegner überwinden und siegen!“ – So das Bekenntnis im Jahr 1933 – im Jahre der Machtübernahme durch Hitler.

Ein Ausrutscher soll hier allerdings nicht unerwähnt bleiben: Für die Zürcher Gemeinderatswahlen von 1933 gingen die bürgerlichen Parteien, zu denen auch die BGB als Juniorpartner gehörte, mit den Frontisten eine Listenverbindung ein.

Die Gründe für diesen Schritt liegen nicht in einer Verbundenheit zu den allgemeinen Zielen der Nationalsozialisten, wohl aber in der gemeinsamen Ablehnung, des Kommunismus, bzw. des Bolschewismus, der vom Bürgertum als grosse Bedrohung betrachtet wurde.

Ferner ist zu bemerken, dass zu diesem Zeitpunkt, also fast sechs Jahre vor dem 2. Weltkrieg, niemand ahnen konnte, was noch auf die Welt zukommen würde. Im Übrigen befand sich die Bauernpartei damals „in guter Gesellschaft“: Auch die Freisinnigen gingen diese Listenverbindung ein, und sogar die NZZ, die wenig später unter Chefredaktor Willy Bretscher eine dezidiert nazi-kritische Haltung einnahm, hiess sie gut.

Von Bretschers Nachfolger, dem gleichfalls legendären Fred Luchinger, stammt ein Zitat, das ich zu meinem politischen Credo gemacht habe: „Freiheit ist der einzige Wert, der es rechtfertigt, dafür extrem zu werden.“ Und tatsächlich: Wenn es heute Leute gibt, die uns als Extremisten beschimpfen, weil wir für Freiheit und Eigenverantwortung einstehen, dann sind diese das Problem – nicht wir.

Ich zitiere zum Schluss noch ein Werbeflugblatt der Bauernpartei aus dem Jahr 1919:

„Ihr wollt arbeiten und leben;

Ihr hasst das Saugen an der Staatskrippe.

Ihr wollt ein einfaches, sittlich kräftiges Schweizervolk: Menschen mit eigener Arbeits- und Verantwortungsfreude!

Ihr bekämpft die Auswüchse des Kapitalismus und verdammt die zertrümmernden Wahnideen der Sozialisten.

Ihr verlangt einen festen Kurs in der Politik und duldet kein Wanken zwischen der vaterländisch-bürgerlichen und der sozialistischen Politik.

Ihr duldet das Verschleudern der Staatsgelder durch eine leichtsinnige Geldverteilerei und eine ruinierende Lohnpolitik nicht.

Ihr fordert einen sparsamen Haushalt des Staates und des Bundes.

Ihr verwerft das staatliche Eingreifen in Eure Betriebe, weil es den Bureaukratismus gross züchtet und die eigene Verantwortung lähmt.“

Sie spüren es. – Seit hundert Jahren muss sich die SVP zwischen Extrempositionen behaupten. Auch heute müssen wir manchmal Positionen  einnehmen und Forderungen erheben, für die wir kritisiert werden. Extrem sind wir deswegen nicht, denn wir stehen auf einem grundsoliden Fundament.