Ansprache zur Bundesfeier 2018 in Hagenbuch

Dieses Jahr war der Tages-Anzeiger besonders früh dran: Bereits Anfang Juni titelte er in einer Buchbesprechung zum Wochenende: „1291 ist für die Schweiz unwichtig“ und dann weiter:

„Anhänger der Schweizer Freiheitsmythen, die unter ihrer Businesskluft und den Poloshirts aus Fernost insgeheim noch immer das Kettenhemd der mythischen Eidgenossen tragen, müssen tapfer sein, sollten sie dieses Buch übers Jahr 1291 tatsächlich in die Hand nehmen. Denn darin werden alle zentralen Schweizer Mythen – Rütlischwur, Tellschuss, Bundesbrief als Gründungsdokument – mit wenigen Handstrichen verworfen.“

Jechtes, Nei! Dann feiern wir also heute etwas Unwichtiges!? – Absolut nicht. Der Tages-Anzeiger und seine Historiker, die jedes Jahr von Neuem behaupten, sie würden die Geschichte umschreiben, sind zu bedauern.

Ich gehe davon aus, dass die wenigsten von Ihnen heute ein Kettenhemd tragen. Aber dass Sie heute Abend hier sind, zeigt, dass Sie sehr wohl zu unterscheiden wissen zwischen belanglosen Nebensächlichkeiten und dem, worauf es ankommt. Sie wissen nämlich genau, dass es vollkommen unwichtig ist, ob Wilhelm Tell wirklich gelebt hat. Wichtig ist nur, dass er Gessler erschossen hat und warum.

Es sagt sehr viel aus über eine Gesellschaft, was sie sich zum nationalen Mythos erwählt, und welche Feste sie feiert.

Schauen wir doch einmal, wie es unsere Nachbarländer so halten:

Beginnen wir mit Liechtenstein: Das Fürstentum feiert am 15. August anlässlich von Mariä Himmelfahrt. Gefeiert wird gleichzeitig auch der Geburtstag des ehemaligen absolutistischen Fürsten Franz Josef II. – obwohl der ist eigentlich am 16. August ist.

Österreich feiert am 26. Oktober die Verabschiedung des Neutralitätsgesetzes. Dieses war das Ergebnis von langen und zähen Verhandlungen mit den Siegermächten des 2. Weltkriegs. Österreich verpflichtete sich damals zu einer „Neutralität nach Schweizer“ Vorbild, von der aber mit dem Beitritt zur EU nicht mehr viel übrigbleibt.

Italien gedenkt am 2. Juni der Volksabstimmung von 1946 über die Einführung der Republik. Auch dieser Anlass stand unter dem Eindruck des 2. Weltkriegs, zu dessen Beginn Italien auf der falschen Seite stand.

Frankreich feiert am 14. Juli den Sturm auf die Bastille und damit den Beginn der Revolution. Der Text der Marseillaise gibt noch heute Zeugnis von der brutalen Gewalt, die dieses Ereignis von Anfang an prägte. Schon am ersten Tag wurden Köpfe abgeschlagen und auf Spiessen umhergetragen, und die hehren Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nahmen schon sehr bald Schaden.

Deutschland hat seinen Nationalfeiertag im Laufe seiner bewegten Geschichte mehrfach geändert. Seit 1990 ist es der 3. Oktober, der Tag der deutschen Einheit.

Und mitten drin also die kleine Schweiz, die etwas ganz anderes feiert, ein mythisches Ereignis, das auf einer Wiese, auf der sonst Kühe weiden, stattgefunden haben soll. Sie feierten keinen Sieg über ein anderes Land, keine Revolution und keine aufoktroyierte Verfassung. Sie feiert und bekräftigt dabei ihren Willen zur Unabhängigkeit und Freiheit. Ihre Neigung zum Kleinräumigen und Überschaubaren. – Also ich muss Ihnen sagen: Ich finde das ist wichtig. Und ich kann jemanden nicht verstehen, der behauptet, es sei unwichtig.

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Warum haben wir überhaupt einen Staat? Die Menschen haben sich wohl kaum zusammengeschlossen, damit sie eine Adresse haben, wohin sie ihre Steuern und Bussen schicken können.

Einen Hinweis gibt uns der Bundesbrief: Die alten Eidgenossen schlossen sich jedenfalls zusammen, um die Anliegen der Einzelnen besser vertreten zu können. Indem man sich im Falle drohender Gefahr gegenseitige Hilfe zusicherte, erhöhte man die Sicherheit des Einzelnen. Der Einzelne hatte also einen handfesten Vorteil von diesem Bündnis, das da zu nächtlicher Stunde auf dem Rütli beschworen wurde. Staaten dienen den individuellen Interessen des Einzelnen.

Dieser Gedanke durchzieht unsere Geschichte wie ein roter Faden. Das Konzept von „Einheit in der Vielfalt“ und „Vielfalt in der Einheit“ ist Grundlage unseres föderalistischen Staatsaufbaus und damit unseres Staates.

Genau darüber liess Gottfried Keller auch Karl Hediger, den Sohn der Schneidermeister Hediger, in der Novelle vom Fähnlein der sieben Aufrechten referieren, und genau das ist die Basis unserer Bundesverfassung. Auch im Bundeshaus prangt in der Bundeshauskuppel der Spruch „Einer für alle, alle für einen“ (Unus pro omnibus, omnes pro uno)

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Niemand hat die Wahrheit für sich gepachtet. Und an einer Bundesfeier wie heute hier in Hagenbuch geht es nicht darum, dass man bei irgendeinem Redner Instruktionen abholt. Man will bestenfalls einige Anregungen, mit denen jeder machen kann was er will. Und dann wartet die Bratwurst. Und vielleicht auch noch ein Bier. Das ist schweizerisch.

Bei aller Vielfalt. Es gibt mehr das uns verbindet, als trennt. Und vor allem verbindet uns die Liebe zur Schweiz. Wir feiern, weil wir uns alle einer bestimmten Staatsidee verbunden fühlen. Nicht einer Ideologie! Freiheit ist keine Ideologie. Jeder macht es so, wie er möchte. Die einen kommen wegen Zanetti, die anderen wegen Zanolli.

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Eine Demokratie lebt vom Wettstreit der Ideen und Meinungen. Und zu einem bestimmten Zeitpunkt wird abgestimmt. Der Entscheid soll möglichst breit abgestützt sein. Möglichst viele Menschen sollen sich darin wiedererkennen. Die Minderheit hat sich der Mehrheit zu fügen, und je entwickelter die politische Kultur ist, desto weniger Probleme werden entstehen. Das ist es was die Demokratie ausmacht. Und in einer lebendigen Demokratie wechseln die Mehrheiten und man nimmt Rücksicht auf die Minderheit. Es entscheidet aber die Mehrheit. Und damit das funktioniert, braucht es manchmal etwas Gelassenheit.

Eine funktionierende und starke Demokratie erträgt auch harte Auseinandersetzungen in der Sache. Hin und wieder darf es sogar polemisch werden. Doch manchmal hat man wirklich den Eindruck, es gehe um das Überleben der Eidgenossenschaft. Denken Sie nur einmal an die NoBillag-Initiative.

Aber das Grossartige an unserer Demokratie ist: Nach der Abstimmung geht es normal weiter – und sei es nur, weil man sich in neuen Allianzen auf den nächsten Abstimmungskampf vorbereitet. Dass das so gut funktioniert, ist eigentlich schon fast ein Wunder. Auf jeden Fall ist es keine Selbstverständlichkeit. Diese Gelassenheit ist die Frucht einer jahrzehntelang gelebten demokratischen Kultur. Dieser müssen wir Sorge tragen.

Schwierig wird es dann, wenn gewisse Meinungen a priori als moralisch richtig und darum überlegen daherkommen. Gerade wer für „Diversity“ und „Inclusion“, also für Verschiedenheit und Einbindung von Minderheiten eintritt, sollte doch auch Verständnis für andere Meinungen haben. Nicht nur Menschen, auch Meinungen können sich schliesslich unterscheiden. Niemand ist verpflichtet, gut zu finden, was ich gut finde. Aber: Mein Recht ist nicht weniger wert. Und ich bin jederzeit bereit, mein Recht zu verteidigen und durchzusetzen.

Doch was diesbezüglich in den sozialen Medien abgeht, ist teilweise erschreckend. Die Nazi-Keule ist allgegenwärtig, was im Ende auf eine Verharmlosung der Nazi-Verbrechen hinausläuft. Wer jemandem der eine restriktivere Zuwanderungspolitik fordert und in diesem Zusammenhang auf Problem für die Gesellschaft und die Überbeanspruchung der Sozialwerke hinweist, als Nazi bezeichnet, hat ganz einfach keine Ahnung, wovon er spricht.

Unsere freiheitliche Rechtsordnung erlaubt es nicht nur, eine Meinung zu haben. Sie erlaubt es ausdrücklich, diese auch zu äussern. Und genau von der gleichen Verfassung ist auch die gegenteilige Meinung geschützt. Die Rechtsgleichheit ist die Zwillingsschwester der Freiheit.

Das gilt auch für den Umgang mit anderen Religionen, etwa mit dem Islam. Jeder darf hierzulande glauben und anbeten, wen und was er will. Wenn er allerdings anfängt, aus seinen eigenen Wertvorstellungen Gebote, und vor allem Verbote, für andere abzuleiten, ist Schluss mit lustig. Dann wird eine Grenze übertreten, die nicht verhandelbar ist.

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Es gibt aber auch eine gute Nachricht: Die Schweiz hat quasi im Feldversuch den Nachweis erbracht, dass ein System, das viele Systeme, Ideen, Traditionen und Vorstellungen in sich vereinigt, durchaus funktionieren kann. Dieses System nennt sich Föderalismus.

Föderalismus ist gelebte Toleranz. Seine Bedeutung geht aber noch wesentlich tiefer. Föderalismus ist in erster Linie Ausdruck einer bestimmten Geisteshaltung. Einer Geisteshaltung der Bescheidenheit und der Zurückhaltung. Einer Geisteshaltung, die davon ausgeht, dass es in vielen Fragen wohl keine absolute Wahrheit gibt und darum dem anderen zugesteht, dass er ebenfalls Recht haben könnte. Oder zumindest, dass er das Recht hat, Dinge so zu regeln, wie es ihn gut und richtig dünkt.

Immer wieder wird der Föderalismus abwertend „Kantönchengeist“ oder „Gärtchendenken“ bezeichnet. Doch, Hand aufs Herz! Wann ist eine Strasse schöner, als wenn sich jeder Anrainer darum bemüht, den schönsten Garten zu haben?

Dieser Wettbewerb ist eine logische Folge des Föderalismus und trägt entscheidend zu einer Steigerung von Innovations- und Wirtschaftskraft bei. Schliesslich will jeder besser sein als die anderen. Föderalismus fördert die Sparsamkeit, die Gestaltungskraft, das Verantwortungsbewusstsein und den Ideenreichtum.

Wer überzeugt ist, dass sich mit Politik etwas bewirken lässt, dass es für Probleme sowohl gute wie auch schlechte Lösungen gibt, und dass es sozial gerecht ist, wenn die Guten belohnt und die Schlechten bestraft werden, der muss den Zentralismus ablehnen.

Es ist also von enormer Bedeutung, dass sich die Bürgerinnen und Bürger mit dem Staat identifizieren. Auch hierzu leistet der Föderalismus einen entscheidenden Beitrag. Er garantiert die grösstmögliche Zufriedenheit der Menschen in einer Region. Und, sollten sie nicht zufrieden sein, so haben sie die Möglichkeit, in ihren überblickbaren Verhältnissen eine Veränderung herbeizuführen. Sehen sie sich dieser Möglichkeit beraubt, führt das zu Frustration, Entfremdung und schliesslich zur Stärkung zentrifugaler, sezessionistischer Kräfte. Auch davon können wir uns jeden Tag in dem Medien überzeugen.

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In der Präambel zu unserer Bundesverfassung steht der schöne Passus, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht. Ich wende mich in diesem Zusammenhang besonders an die Jugendlich: Engagiert Euch für unseren Staat, in welcher Form auch immer. Und macht von Euren Rechten Gebrauch. Was in der Politik geschieht, betrifft Euch nämlich sehr direkt. Es gibt kaum einen Lebensbereich, der dem Einfluss der Politik entzogen ist. Es ist Aufgabe und Verantwortung, von uns allen, dieses Land nach unseren Vorstellungen und Bedürfnissen zu gestalten. Wir alle sind dazu aufgerufen. Und schliesslich leben wir im einzigen Land auf der Welt, in dem sich der Bürger direkt einbringen kann.

Auch die Ausländer fordere ich auf, sich in unserem Gemeinwesen zu engagieren. Nehmen Sie in Vereinen oder in anderer Form am öffentlichen Leben teil. Das ist Integration. Das macht die Schweiz aus.

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Ich habe am Anfang unseren Zürcher Nationaldichter Gottfried Keller erwähnt, der sich intensiv mit diesen Fragen auseinandergesetzt hat. Und er hat das natürlich viel schöner getan, als ich das je könnte. Lassen Sie mich darum eine Passage aus der Rede von Karl Hediger aus dem „Fähnlein der sieben Aufrechten“ zitieren:

„Ei! was wimmelt da für verschiedenes Volk im engen Raume, mannigfaltig in seiner Hantierung, in Sitten und Gebräuchen, in Tracht und Aussprache! Welche Schlauköpfe und welche Mondkälber laufen da nicht herum, welches Edelgewächs und welch Unkraut blüht da lustig durcheinander, und alles ist gut und herrlich und ans Herz gewachsen; denn es ist im Vaterlande!

Und weiter:

Wie zierlich und reich ist es aber auch gebaut! Je näher man es ansieht, desto reicher ist es gewoben und geflochten, schön und dauerhaft, eine preiswürdige Handarbeit! Wie kurzweilig ist es, dass es nicht einen eintönigen Schlag Schweizer, sondern dass es Zürcher und Berner, Unterwaldner und Neuenburger, Graubündner und Basler gibt, und sogar zweierlei Basler! Dass es eine Appenzeller Geschichte gibt und eine Genfer Geschichte! Diese Mannigfaltigkeit in der Einheit, welche Gott uns erhalten möge, ist die rechte Schule der Freundschaft, und erst da, wo die politische Zusammengehörigkeit zur persönlichen Freundschaft eines ganzen Volkes wird, da ist das Höchste gewonnen! Denn was der Bürgersinn nicht ausrichten sollte, das wird die Freundesliebe vermögen, und beide werden zu einer Tugend werden!“

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In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine schöne Bundesfeier und der Eidgenossenschaft Generationen gelebter Demokratie und Föderalismus.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.