Im Anfang des politischen Lebens war Föderalismus. Föderalismus kann man nicht schaffen oder gar per Dekret anordnen – man kann ihn bloss verteidigen. Föderalismus ist das Gegenteil von Zentralismus. Er braucht ständig Bestätigung. Denn, wie schon einer der Väter der ersten modernen Verfassungen, Thomas Jefferson wusste, tendieren Gemeinwesen im Laufe der Zeit zu einer Stärkung der Exekutive und zum Zentralismus. Der Grund dafür liegt wohl in der Bequemlichkeit des Menschen und an seiner schwindenden Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen. Auf dem Altar vermeintlicher Sicherheit wird Freiheit geopfert.
Julius Cäsar sagte noch trotzig und selbstbewusst: „Malo in hoc vico primus esse quam Romae secundus.“ – Er wolle lieber im Dorf Erster sein, als in Rom bloss Zweiter. Jene, die uns heute in Europa regieren, fühlen sich hingegen mehr der olympischen Devise verpflichtet: Für sie ist Dabeisein alles. Nichts ängstigt solche Politiker mehr, als der Gedanke, man könnte sich isolieren oder isoliert werden. Dass dem Zentralismus huldigende Kreise in der EU nicht einmal davor zurückschrecken, ein ganzes Land mittels Boykott zu isolieren, wenn ihnen das Ergebnis einer demokratischen Wahl missfällt, braucht in diesem Hohen Haus nicht weiter ausgeführt zu werden.
Föderalismus, meine Damen und Herren, ist eines von fünf Prinzipien, auf denen Demokratien westlicher Prägung gemäss Lehre aufbauen:
Da wäre zunächst das Prinzip der Freiheitlichkeit. Es besagt, dass der Staatsgewalt durch Gesetze Grenzen gesetzt sind. Dieser Schutz der Freiheit des Einzelnen vor staatlichen Übergriffen geht auf Rechtsakte wie die Magna Charta Libertatum oder den Habeas Corpus Act, deren Bedeutung kaum überschätzt werden kann, zurück.
Eng damit verbunden ist das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, das besagt, dass das Gesetz Grundlage und Schranke staatlichen Handelns sein müsse, was von unabhängigen Gerichten überprüfbar sein muss.
Ein weiteres Prinzip ist jenes der Sozialstaatlichkeit: Das Gemeinwesen sorgt für die Armen und Schwachen. In der Präambel zur Schweizerischen Bundesverfassung heisst es sogar, dass sich „die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen misst“.
Weiteres wichtiges Element ist die Demokratie. Auch sie kann sehr unterschiedlich ausgestaltet sein, darf jedoch den Grundsatz, wonach alle Staatsgewalt letztlich vom Volk ausgeht, nicht verletzen.
Bleibt das Prinzip der Bundesstaatlichkeit, oder eben der Föderalismus. Mit der grossen Ausnahme Frankreich sind fast alle modernen Staaten als Zusammenschluss von Gliedstaaten – also von „unten nach oben“ – entstanden. Es rächt sich, diese Prämisse zu verdrängen.
Auf die Frage nach der Aufteilung der Kompetenzen zwischen Zentral- und Gliedstaaten will ich gleich eingehen. Doch lassen Sie mich zunächst ausführen, weshalb ich von den erwähnten Prinzipien jenes des Föderalismus für das wichtigste halte. Ja, meiner Meinung nach ist Föderalismus sogar noch wichtiger als Demokratie.
Den meisten Menschen in unserer Zeit begegnet der Staat in Form von Rechnungen und Vorschriften, die immer mehr Aspekte unseres Lebens regeln. Dabei geht Grundlegendes vergessen: Wir sind als freie Menschen geboren und haben das Gemeinwesen zum Schutz unserer individuellen Interessen geschaffen. Darum hat der Staat für die Menschen da zu sein und nicht umgekehrt.
Es kann allerdings vorkommen, dass der Wille oder die Interessen des Staates, oder besser: des Staatsapparates, von denen der betroffenen Menschen abweichen. Für den grossen Staatstheoretiker John Locke, der mit seinen Schriften das geistige Fundament für die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und Verfassung, ja für den freiheitlichen Rechtsstaat schlechthin, legte, war klar: Der Staat hat das Leben der Bürger sowie deren Freiheiten und das Eigentum zu schützen. Tut er dies nicht, oder wird er gar selbst zur Bedrohung, haben die Bürger das Recht, wenn nicht gar die Pflicht, Widerstand zu leisten.
Es ist also von enormer Bedeutung, dass sich die Bürgerinnen und Bürger mit dem Staat, oder eben mit der RES PUBLICA, wie Sie Ihre Vortragsreihe nennen, identifiziert. Hierzu leistet der Föderalismus einen entscheidenden Beitrag. Er garantiert die grösstmögliche Zufriedenheit der Menschen in einer Region. Und, sollten sie nicht zufrieden sein, so haben sie die Möglichkeit, in ihren überblickbaren Verhältnissen eine Veränderung herbeizuführen. Sehen sie sich dieser Möglichkeit beraubt, führt das zu Frustration, Entfremdung und schliesslich zur Stärkung zentrifugaler, sezessionistischer Kräfte. In der EU mehren sich die Beispiele dafür. Wirtschaftlich starke Regionen und Staaten erhalten den Eindruck, dass die von ihnen erbrachte Leistung in einem schlechten Verhältnis zu dem steht, was sie zurückerhalten.
Wofür sollen nun aber die Gliedstaaten und wofür die Zentralregierung zuständig sein? Und wie soll die Kompetenzenaufteilung am zweckmässigsten vorgenommen werden? Hier kommt das berühmte Subsidiaritätsprinzip zur Anwendung. Doch, Vorsicht! Nicht überall, wo „Subsidiarität“ draufsteht, ist auch Subsidiarität drin. – Dabei ist das Subsidiaritätsprinzip so einfach wie genial. Stellen Sie sich einen römischen Brunnen vor: Das Wasser, das in der obersten Schale keinen Platz mehr findet, fällt in die darunterliegende grössere und so weiter.
Die Schweizerische Bundesverfassung umschreibt dieses Prinzip der negativen Kompetenzenausscheidung in Artikel 3 wie folgt (Beachten Sie bitte, dass in dem einen Satz gleich zweimal der Begriff „souverän“ auftaucht):
„Die Kantone sind souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist; sie üben alle Rechte aus, die nicht dem Bund übertragen sind.“
Alles, was nicht Bundesangelegenheit ist, ist demnach Sache der Kantone. Damit ist lückenlos geregelt, wer wofür zuständig, also zur Selbstbestimmung berechtigt ist.
Um Bürgernähe zu demonstrieren oder zu simulieren, wie immer Sie mögen, hat sich auch die EU ein Subsidiaritätsprinzip ins Stammbuch geschrieben. Doch, anstatt sich des einfachen Prinzips zu bedienen, wie es in der Schweiz seit 1848, also seit dem Übergang vom Staatenbund zum Bundesstaat, erfolgreich praktiziert wird, schrieben die Regierenden in ihrer grenzenlosen Weisheit Folgendes in Artikel 5 des Vertrags über die europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union:
„Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.“
Demnach kann die Union erstens nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig werden, die ihr in den Verträgen übertragen wurden. Zweitens kann sie nach dem Subsidiaritätsprinzip in den Bereichen der geteilten Zuständigkeit nur tätig werden, sofern die in den Verträgen festgelegten Ziele auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind. Schliesslich hat sie den Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu beachten, wonach ihre Massnahmen inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Mass hinausgehen dürfen. Zu beurteilen, ob das europaweite Verbot von Glühbirnen oder von Olivenölflaschen in sämtlichen Restaurants zwischen Lissabon und Bukarest diese Bedingung erfüllt, überlasse ich Ihnen, geschätzte Damen und Herren.
Sie haben es in der EU also – entgegen der erklärten Absicht – nicht mit einer klaren Regel für die Aufteilung von Kompetenzen zu tun, sondern mit einer Anweisung, nach welchen Kriterien die Diskussion darüber geführt werden soll. Doch der Nachweis, dass etwas „auf regionaler oder lokalen Ebene“ besser verwirklicht werden kann, ist in der Praxis schlicht und einfach nicht zu erbringen. Und von Politikern, die jede Kritik an Brüssel als Rückfall in den dunklen Nationalismus und damit als „dem Geist der europäischen Einigung“ widersprechend geisseln, auch nicht zu erwarten. Mit andern Worten: Artikel 5 des EU-Vertrags hält nicht, was den Völkern von den Politikern versprochen wurde.
Bei uns in der Schweiz haben die Kantone keine, wie auch immer gelagerte Beweispflicht. Ja, sie müssen nicht einmal in der Sache Recht haben. Wo sie es für sinnvoll und nötig erachten, können sie zugunsten des Bundes auf eigene Kompetenzen verzichten. Wenn hingegen Volk und Stände – ein anderes Wort für Kantone – die Schaffung einer Bundeskompetenz ablehnen, dann gibt es keine Bundeskompetenz. Punkt. Überhaupt ist unsere Verfassung vom Geist durchdrungen, Macht nicht zu konzentrieren und zu festigen, sondern aufzuteilen und zu zerschlagen.
Die Bedeutung des Föderalismus geht aber noch wesentlich tiefer. Föderalismus bedingt eine bestimmte Geisteshaltung. Eine Geisteshaltung der Bescheidenheit und der Zurückhaltung. Eine Geisteshaltung, die davon ausgeht, dass es in vielen Fragen wohl keine absolute Wahrheit gibt und darum dem anderen zugesteht, dass er ebenfalls Recht haben könnte. Oder zumindest, dass er das Recht hat, Dinge so zu regeln, wie es ihn gut und richtig dünkt.
Wer allerdings den Wettbewerb der Ideen und Systeme scheut, oder dermassen von Sendungsbewusstsein erfüllt ist, dass er keinen Widerspruch duldet, wird konsequenterweise den Föderalismus schlecht reden oder gar lächerlich machen. In der Schweiz geschieht dies etwa dadurch, dass man abwertend von „Kantönchengeist“ spricht, oder jemanden „Gärtchendenken“ vorwirft. Doch, Hand aufs Herz! Wann ist eine Strasse schöner, als wenn sich jeder Anrainer darum bemüht, den schönsten Garten zu haben?
Dieser Wettbewerb ist eine logische Folge des Föderalismus und trägt entscheidend zu einer Steigerung von Innovations- und Wirtschaftskraft bei. Schliesslich will jeder besser sein als die anderen. Föderalismus fördert die Sparsamkeit, die Gestaltungskraft, das Verantwortungsbewusstsein und den Ideenreichtum. Darum ist Föderalismus so wichtig, und darum ist er den Sozialisten in allen Parteien, die auf Gleichmacherei und Einförmigkeit aus sind, ein Dorn im Auge. Sie gewichten die Gefahr, ins Hintertreffen zu geraten, höher, als die Chance, sich im Guten gegenüber den anderen abzuheben.
Gestatten Sie mir, an dieser Stelle einen kurzen Einschub aus dem „Wilhelm Tell“ von Schiller. Der Landammann Attinghausen hat dort nämlich mit dem gleichen Problem zu kämpfen. Er wird von seinem Neffen Rudenz bedrängt, der das Heil im Neuen und Grossen erblickt. Er will nicht abseits stehen und als Hinterwäldler gelten. Er will sich unter die Fittiche Habsburgs begeben.
„Vergeblich widerstreben wir dem König,
Die Welt gehört ihm, wollen wir allein
Uns eigensinnig steifen und verstocken,
Die Länderkette ihm zu unterbrechen,
Die er gewaltig rings um uns gezogen?
Sein sind die Märkte, die Gerichte, sein
Die Kaufmannsstrassen, und das Saumross selbst,
Das auf dem Gotthard ziehet, muss ihm zollen.
Von seinen Ländern wie mit einem Netz
Sind wir umgarnet rings und eingeschlossen.
– Wird uns das Reich beschützen? Kann es selbst
Sich schützen gegen Östreichs wachsende Gewalt?“
Föderalisten suchen nicht die Grossmacht, sie glauben an die eigene Stärke. Wer überzeugt ist, dass sich mit Politik etwas bewirken lässt, dass es für Probleme sowohl gute wie auch schlechte Lösungen gibt, und dass es sozial gerecht ist, wenn die Guten belohnt und die Schlechten bestraft werden, der muss den Zentralismus ablehnen. Und der muss auch dagegen antreten, dass diejenigen, die sich für die schlechten Lösungen entschieden haben, über den Finanzausgleich von den Leistungen derjenigen profitieren, die eine gute Ordnungspolitik betreiben. Es muss möglich sein, anders zu sein.
Kritikern des Föderalismus oder Befürwortern zentralistischer Lösungen geht es angeblich darum, Doppelspurigkeiten zu verhindern oder, wie sie gerne behaupten, Synergien zu nutzen. Was in gewissen Einzelbereichen vielleicht zutreffen mag, erweist sich im Grossen als trügerisch. So erweist sich beispielsweise ein dezentralisiertes Steuerwesen als Segen für die Steuerzahler. Wenn wir in der Schweiz die Entwicklung der Staatsaugaben oder der Verschuldung zwischen Gemeinden, Kantonen und dem Bund betrachten, dann zeigt sich eindeutig, dass Gemeinden mit dem Geld der Bürger wesentlich haushälterischer umgehen als die Kantone und erst recht der Bund. Die Gründe dafür sind einerseits der Konkurrenzkampf zwischen den Gemeinden, der auch ein Steuerwettbewerb ist, ja sein muss, und die stärkere direktdemokratische Kontrolle. Vom Föderalismus im Steuerwesen profitieren die Bürgerinnen und Bürger am meisten.
Die von mir überaus geschätzte Staatsrechtlerin und ehemalige Bundesparlamentariern Suzette Sandoz bezeichnete Föderalismus kürzlich in der „Neuen Zürcher Zeitung“ als „humanistische und politische Antwort auf die Globalisierung“. Weiter führte sie aus: „Dies entdeckt die ganze Welt gegenwärtig durch das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen. Dieses führt den schweizerischen Föderalismus als das beste Beispiel einer multikulturellen Politik an, die in der Lage ist, Diskriminierungen zu verhindern. Auch die Europäische Union beginnt dies zaghaft einzusehen.“
Die Betonung im letzten Satz muss man hier wohl auf „zaghaft“ legen. Aber immerhin hat die EU einen Wahlspruch, der Föderalismus fordert: „In Vielfalt geeint“ – das lässt doch wenigstens hoffen.
Mit einem Werbespot für Föderalismus komme ich zum Schluss:
Ich sage Ja zum Föderalismus, weil ein von unten nach oben aufgebauter Staat maximale Mitsprache des Einzelnen sichert.
Ich sage Ja zum Föderalismus, weil politische Entscheide dort, wo sie von den unmittelbar Betroffenen gefällt werden, am Sachgerechtesten ausfallen.
Ich sage Ja zum Föderalismus, weil freie Mitbestimmung des Einzelnen nur garantiert ist, wo die politische Macht dezentralisiert, demokratisch eingegrenzt und überschaubar ist.
Ich sage Ja zum Föderalismus, weil der föderalistische Staatsaufbau die beste Voraussetzung für einen gesunden Staatshaushalt und für die Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger bietet.
Ich sage Ja zum Föderalismus, weil das Prinzip „Wer zahlt, befiehlt“ und „Wer befiehlt, zahlt“ die Verantwortlichkeit für Staatsaufgaben am wirkungsvollsten zum Ausdruck bringt.
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Referat gehalten anlässlich des Dinghofer-Symposiums vom 12. November 2014 12 im Abgeordnetensprechzimmer des Parlaments der Republik Österreich