Mein Referat am ZAAVV Kongress 15./16 November 2025 im
Trip Inn Kongresshotel, Kopernikusstraße 1, 63110 Rodgau
Der ganze Text als PDF: Claudio Zanetti – Geschichte der Menschenrechte – ausführlicher Text
und die dazugehörige PP-Präsentation: Geschichte der Menschenrechte
Beim Stöbern nach Material für diesen Aufsatz bin ich bald auf die Website der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg gestossen. Dort findet sich eine ausgezeichnete Chronologie, die allerdings – weiss Gott warum – erst 1215 einsetzt. Wir werden noch sehen, dass die Wurzeln der Menschrechte wesentlich weiter zurückreichen. Keine Angst: Bis zu Adam und Eva gehen wir nicht – aber fast…
Auf dieser Website wird die gewagte These aufgestellt, Menschenrechte seien:
- Unveräusserlich,
- universell und
- unteilbar
Dazu kann ich nur sagen: «Schön wär’s!» – Leider ist keine dieser drei Eigenschaften wirklich in Stein gehauen. – Es ist nicht einmal klar, wie viele Menschenrechte es eigentlich gibt. Allein schon diese Frage würde einen eigenen Vortrag verdienen. Dazu reicht die Zeit nicht, aber immerhin für eine Anekdote zur Illustration:
Vor der Februarrevolution von 1848 in Frankreich besannen sich Republikaner und Liberale auf die zu Anfang der Französischen Revolution beliebten «Banquets républicains». Das waren öffentliche und politische Mahlzeiten, an denen auch Reden gehalten wurden. Im Wissen um die Dynamik, die solche Veranstaltungen zu entfesseln vermochten, versuchte die Regierung, sie in Paris zu verbieten. Innenminister Charles Marie Tanneguy Duchâtel argumentierte damit, dass die Verfassungscharta kein Recht auf Bankette garantierte. Dem hielten spitzfindige Witzbolde entgegen, dass die Charta auch kein Recht auf Atmen kenne, und dass trotzdem niemand auf die Idee käme, der Regierung das Recht zuzugestehen, das Atmen zu verbieten. – Die Revolution, die zur Ausrufung der Zweiten Französischen Republik führte, liess sich jedenfalls durch Wortklaubereien nicht aufhalten. Nicht einmal vier Jahre später hatten die Franzosen allerdings wieder einen Kaiser…
Unveräusserlich?
Das Prädikat «Unveräusserlich» für Menschenrechte geht auf die grossartigen Gedanken von John Locke (1632-1704) zurück. Diese fanden zunächst Eingang in die Virigina Declaration of Rights und dann auch in jene Erklärung, mit der die Vereinigten Staaten ihre Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich erklärten.
Kann es für freiheitsliebende Menschen schönere Sätze geben als:
«We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.»
«Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen und von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräusserlichen Rechten ausgestattet wurden, worunter sind Leben, Freiheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.»
Gemäss John Locke hat der Staat nur das zu gewährleisten. Tut er es nicht, oder versagt er bei dieser Aufgabe, sind die Menschen von ihrer Loyalitätspflicht entbunden und dürfen Widerstand leisten.
Sein Konzept der Freiheitsrechte setzt einen Schöpfergott voraus. Ihm haben wir zu verdanken, dass wir frei sind. Ihm können wir vertrauen. – «In God we trust.», wie es auf der Dollarnote heisst.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die bildliche Darstellung der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen) die am 26. August 1789 von der französischen Nationalversammlung verabschiedet wurde. Obwohl die Französische Revolution mit Religion und Kirche nicht gerade freundlich umging, ist die ikonographische Anlehnung an die alttestamentarische Überlieferung der zehn Gebote offensichtlich.
Gewiss können auch Atheisten gute Absichten haben, und ein Regelwerk kreieren, das dem Individuum Freiheit garantiert. Aber ein solches System kann eben auch durch Menschen geändert werden. Diese brauchen nur einen Grund, zum Beispiel eine Pandemie, und schon sind alle roten Linien aufgehoben. Beziehungsweise die Regierenden anerkennen sie nicht mehr. – Ein Staat, der alles gibt, kann auch alles nehmen!
Und ja, auch die Demokratie, in diesem Zusammenhang als Mehrheit der Bürger verstanden, hat auf das Individuum Rücksicht zu nehmen. Während beispielsweise das Strafrecht oder das Zivilrecht Regeln enthält, die unser Zusammenlegen ohne Zweifel verbessern, ist doch sehr fraglich, ob eine Mehrheit von Menschen das recht hat, die Minderheit dazu verpflichten, sich eine weitgehend unbekannte und unerprobte Substanz in den Körper spritzen zu lassen. Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, dem Staatsapparat klare Grenzen nicht nur zu setzen, sondern diese auch zu verteidigen.
ZAAVV-Gründer Ralf Ludwig schrieb einmal in seinem Telegram-Kanal: «Menschenrechte sind nicht verhandelbar!» – Gewiss, wir hier im Saal stimmen alle diesem Imperativ zu. Das Problem ist allerdings, dass Menschenrechte permanent verhandelt werden.
Denken wir nur daran, wie unterschiedlich, ja erratisch selbst klare Kriegsverbrechen verfolgt und geahndet werden. Und kaum jemanden scheint es zu kümmern, wer für die Covid-Katastrophe verantwortlich ist, obwohl uns das die Adresse liefern würde, wohin wir die Rechnung schicken können. Und, was die Suche nach den Urhebern der Nord Stream-Sprengung angeht, dürfte kaum jemand der Meinung sein, dass sich die deutsche Staatsanwaltschaft allein von den Maximen der Rechtsstaatlichkeit und der unvoreingenommenen Wahrheitssuche leiten lässt.
Universell?
Wie steht es mit der Universalität der Menschenrechte?
Am 15. März 2008 trat die Arabische Charta der Menschenrechte in Kraft. Zusammen mit Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam wird sie als muslimisches Gegenstück zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gesehen und wurde 2020 erneuert. Sie orientiert sich stark an Form und Inhalt der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, postuliert in den einzelnen Artikeln allerdings einen Scharia-Vorbehalt…
Man mag diese Erklärungen kritisieren oder als «Schritt in die richtige Richtung begrüssen, Tatsache ist jedenfalls, dass sie den Anspruch der Uno-Menschenrechte auf Universalität zunichtemachen.
Unteilbar?
Bleibt schliesslich die Frage nach der Unteilbarkeit…
Auch hier ist die Antwort ernüchternd: Grund und Freiheitsrechte können – ja müssen sogar – eingeschränkt werden (können). Die Voraussetzungen dafür sind fester Bestandteil der Verfassungen moderner Rechtsstaaten.
Dort heisst es beispielsweise
- Der Kerngehalt der Grund- und Freiheitsrechte ist unantastbar.
- Die Einschränkung muss einem übergeordneten Interesse der Allgemeinheit dienen.
- Die Einschränkung muss geeignet sein, das angestrebte Ziel zu erreichen.
- Die Einschränkung muss in einem Gesetz im formellen Sinn geregelt sein.
- Einschränkungen von Grundrechten müssen verhältnismässig sein, d.h. kann mit weniger weit gehenden Einschränkungen das gleiche Ziel erreicht werden, sind diese vorzuziehen.
- Die Zulässigkeit der Verletzung von Grund- und Freiheitsrechten unterliegt der Prüfung durch unabhängige Gerichte.
Wünschenswert wäre, dass über jeden dieser Punkte im konkreten Anwendungsfall intensiv gestritten und debattiert wird. Das ist es, was eine Demokratie ausmacht. Denn, wo etwas als «alternativlos» dargestellt wird, befinden wir uns auf dem Weg in den Totalitarismus.
Wir mussten während «Corona» die schmerzliche Erfahrung machen, dass unsere Politiker ein sehr lockeres, ja geradezu erratisches Verhältnis zu Menschenrechten haben. Was sie für richtig hielten, wurde gemacht. Was sie nicht mochten, wurde kurzerhand verboten. Nicht verfassungskonforme Gremien, wie die Ministerpräsidenten-Schalte, oder Personen, deren Namen lange hinter dicken, schwarzen Balken versteckt blieben, hatten plötzlich unerhörte Kompetenzen – weitgehend ohne demokratische Kontrolle. Ja, auch Parlamente verzichteten in erschütternder Lässigkeit auf ihre Rechte – oder sind es nicht vielmehr Pflichten?
Es ist jedenfalls eine Sache, die Unteilbarkeit von Menschenrechten zu behaupten, und eine ganz andere, sie nicht nach politischer Opportunität zu interpretieren, zu verwässern und zu beschränken.
*
Vom französischen Lyriker Pierre Reverdy stammt der Satz: «Il n’y a pas d’amour, il n’y a que des preuves d’amour.» – Es gibt keine Liebe, es gibt nur Liebesbeweise.
In Anlehnung daran könnte man sagen: «Es gibt keine Menschenrechte, es gibt nur den Beweis der Menschenrechte.» – Der ist dann erbracht, wenn sie beachtet, eingehalten und erfolgreich verteidigt werden.
Wir werden darauf zurückkommen. Doch zunächst die Frage:
Was sind eigentlich Menschenrechte?
Nun haben wir uns zwar damit beschäftigt, was Menschenrechte alles nicht sind, aber wir haben noch keine positive Umschreibung. Eine solche liefert das Deutsche Institut für Menschenrechte:
«Menschenrechte sind Rechte, die jedem Menschen zustehen. Sie gelten für alle Menschen – einfach weil sie Menschen sind, jederzeit und überall, «ohne irgendeinen Unterschied, etwa aufgrund rassistischer Zuschreibungen, nach Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand» (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 2). Grundlage der Menschenrechte ist die Annahme, dass alle Menschen die gleiche Menschenwürde besitzen und gleichberechtigt sind.»
Nun hat diese deutsche Institut offenbar nicht mit uns Schweizern gerechnet: Am 13. Februar 2022 wurde im Kanton Basel-Stadt nämlich darüber abgestimmt, das in der Kantonsverfassung verankerte Recht auf Leben und auf körperliche und geistige Unversehrtheit auf nichtmenschliche Primaten auszudehnen – genauer: auf sogenannte Trockennasen-Primaten. Immerhin 25,26 Prozent der Stimmbürgerwaren dazu bereit. Es ist davon auszugehen, dass dieser Prozentsatz kontinuierlich ansteigen wird, also denken Sie bitte daran, wenn die Diskussion auch bei Ihnen ankommt, wer es erfunden hat…
Nachdem also das Basler Stimmvolk auf absehbare Zeit geklärt hat, für wen Menschenrechte gelten, bleibt noch die Frage, was überhaupt ein Recht ist.
Im ersten Teil des Corpus Iuris Civilis, einer Zusammenfassung und Redaktion des gesamten römischen Rechts durch Kaiser Justinian Anfangs des 6. Jahrhunderts heisst es unter Berufung auf den grossen Juristen Cicero, der sich wiederum auf die Griechen berief, vornehmste Aufgabe des Rechts sei es, «suum cuique tribuere» – jedem das Seine zuzuteilen. – Ein wunderschöner Gedanken, der im vergangenen Jahrhundert leider von den Nationalsozialisten auf zynische Art und Weise pervertiert wurde.
Recht ist der Versuch oder das Streben danach, Gerechtigkeit zu schaffen. Darum ist es auch nicht gleichbedeutend, Recht zu haben und vor Gericht Recht zu erhalten.
Ein Recht schützt vor fremden Einflüssen. Wer ein Recht hat, darf sich dafür einsetzen, darf dafür kämpfen. Die entscheidende Frage lautet: Wie weit reicht mein Recht, und wie weit darf ich zu seinem Schutz gehen?
Wenn wir heute gerne sagen: «Die Freiheit des einen reicht bis dorthin, wo die Freiheit des anderen beginnt.», so stecken hinter dieser lapidaren Feststellung enorme geistesgeschichtliche Entwicklungen: Menschen mussten zuerst einmal als gleich angesehen werden.
Der Monotheismus verändert alles
Die Vorstellung der Gleichheit vor einem einzigen Gott ist zentrales Anliegen der jüdischen Religion. Aus dieser damals völlig neuen Idee entwickelte sich im Laufe der Zeit die Idee einer Würde, die allen Menschen zusteht, weil sie Menschen sind.
Der wesentliche Impuls zur Verbreitung des Begriffs «Menschenwürde» ging vom italienischen Humanisten Giovanni Pico della Mirandola aus. Jacob Burckhardt bezeichnete dessen «Rede über die Würde des Menschen» gar als «eines der edelsten Vermächtnisse der Renaissance». Dass sich der 23-Jährige Pico keineswegs als Erfinder von etwas völlig Neuen verstand, zeigt bereits die Einleitung seines Werks: Er verweist auf «arabische Schriften» und auf den «Sarazenen Abdalas» und damit indirekt auf die von ihnen übersetzten und tradierten Texte der antiker Autoren. Und als Mensch, der fest in der christlich-katholischen Tradition verwurzelt war, zitierte er mühelos den Götterboten Merkur, der wiederum den griechischen und römischen Gott der Heilkunst Asklepius (oder Äskulap) zitiert.
Diese intellektuelle Offenheit, dieses Streben nach Wissen zeichnet den Humanismus aus, der wiederum der Nährboden für die Aufklärung war. So kann man seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert von Menschenrechten in unserem modernen Sinn sprechen, als sie in Dokumenten, ja Katalogen, festgehalten wurden. Aber die Wurzeln reichen weit in die Vergangenheit zurück.
[Ich habe Sie gewarnt, wir nähern uns Adam und Eva…]
Ende der 1960er Jahre behauptete der letzte Schah von Persien, Mohammad Reza Pahlavi, zum 2500. Geburtstag der iranischen Monarchie, der so genannte Kyros-Zylinder sei weltweit die erste Erklärung der Menschenrechte, und deren Geburtsort sei demnach der Iran gewesen. Und wie wir alle wissen, war der Schah ein grosser Freund und Verfechter der Menschenrechte – bis ihn die Bevölkerung aus dem Land jagte. Gleichwohl war sein PR-Spin so erfolgreich, dass Kyros II. in deutschen Schulbüchern sogar als Pionier für Menschenrechte gefeiert wurde.
Was hat es also mit diesem Kyros-Zylinder auf sich?
Der in Keilschrift geschriebene und teilweise beschädigte Text berichtet davon, wie Kyros das sagenumwobene Babylon einnahm und dessen Bewohner sehr gnädig behandelte. Insbesondere machte er sie nicht zu Sklaven, wie es gängige Tradition war.
Tatsächlich wird Kyros auch im Alten Testament der Bibel als gnädiger Herrscher beschrieben. Er war es nämlich, der die Israeliten aus ihrer babylonischen Gefangenschaft entliess.
Allerdings enthält ebendiese Bibel Textstellen, die noch wesentlich älter sind und ebenso gut als Kodifizierung von Menschenrechten betrachtet werden können. Da wären zunächst die sieben Noachidischen Gebote zu erwähnen. Sie sind sogar noch älter als die «Zehn Gebote», die Moses auf dem Berg Sinai von Gott empfing.
Die Bedeutung der Letzteren ist nicht zu überschätzen. Kein Dokument der Weltgeschichte hat die Welt so zum Besseren verändert wie sie.
Sie beginnen damit, dass Gott erklärt, dass er die Kinder Israels aus der Sklaverei in die Freiheit geführt hat. Das zeigt, wie sehr Gott die Sklaverei hasst, und für wie wichtig Er die Freiheit hält. In diesem Zusammenhang ist auch das Gebot, den Sabbath zu heiligen, von Bedeutung: Obwohl die Bibel die Sklaverei nicht allgemein abschaffen konnte, hat das Sabbatgebot diese schreckliche Institution humanisiert und sogar dazu beigetragen, die Sklaverei unmöglich zu machen. Per Definition war ein Sklavenhalter nicht verpflichtet, einem Sklaven zu erlauben, sich jemals auszuruhen, geschweige denn, einen Tag pro Woche zu ruhen. Doch genau das ist es, was das vierte Gebot befiehlt. Sogar ein Sklave hat grundlegende Menschenrechte. Auch ein Sklave ist ein Mensch.
Stellen Sie sich für einen Moment eine Welt vor, in der es keinen Mord oder Diebstahl gab. In einer solchen Welt bräuchte es keine Armeen, keine Polizei und keine Waffen. Männer, Frauen und Kinder könnten überall hingehen, zu jeder Tages- und Nachtzeit, ohne befürchten zu müssen, getötet oder ausgeraubt zu werden. Stellen Sie sich ferner eine Welt vor, in der niemand begehrte, was seinem Nächsten gehörte; eine Welt, in der Kinder ihre Mutter und ihren Vater ehrten und die Familieneinheit blühte; Eine Welt, in der die Menschen dem Gebot gehorchten, nicht zu lügen. Das Rezept für eine gute Welt ist alles vorhanden – in diesen zehn erhabenen Geboten.
Aber es gibt einen Haken. Die Zehn Gebote basieren auf dem Glauben, dass sie von einer Autorität gegeben wurden, die höher ist als jeder Mensch, jeder König oder jede Regierung. Deshalb sagt der Satz, der den Zehn Geboten vorausgeht, Folgendes:
«Gott sprach alle diese Worte.»
Das ist die Grundlage dessen, was ethischer Monotheismus genannt wird. Das ist die grösste weltverändernde Innovation der hebräischen Bibel. Es bedeutet zweierlei:
Erstens: Der eine Gott ist die Quelle von Ethik und Moral.
Zweitens: Gott will von uns nichts für sich, aber er verlangt, dass wir andere Menschen moralisch behandeln.
Während alle früheren Religionen vorschrieben, was Menschen – bis hin zu Tier- und Menschenopfern -«für Gott» tun müssen, wollen die «Zehn Gebote», dass wir gut zu unseren Mitmenschen sind. Auch der Satz «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.» stammt übrigens aus diesem Kontext des Alten Testaments. Erst Jahrhunderte später wird ihn Jesus noch eskalieren, indem er sogar die Feindesliebe fordert.
Logische Folge des Monotheismus ist die Vorstellung, dass alle Menschen vor Gott gleich sind und darum über die gleiche Würde verfügen. Im Zuge der Aufklärung und der Weiterentwicklung wurde daraus die Gleichheit vor dem Recht, die in jedem Rechtsstaat zentral ist.
Leider ist nicht einmal dieses Postulat so solide in unserer Gesellschaft verankert, wie es seine Bedeutung verlangt. Man denke nur an die vielen Privilegien unserer Politiker, die neuerdings sogar Sondergesetze zu ihrem Schutz fordern…
*
Meilensteine
Zu einem Referat, das «Geschichte der Menschenrechte» heisst, gehört natürlich zumindest eine chronologische Abhandlung aller wichtigen Meilensteine auf dem Weg zu unseren Rechtsstaaten westlicher Prägung.
Obwohl jeder dieser «Meilensteine» einen eigenen Vortrag verdiente, kann ich hier nur im Telegrammstil darauf eingehen:
1215: Magna Carta Libertatum (England)
In der «Grossen Charta der Freiheit» sicherte König Johann ohne Land den Adeligen Schutz vor willkürlichen Verhaftungen und anderen Angriffen zu. Das Dokument garantiert das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren und das Verbot unverhältnismässiger Bestrafung und Enteignung sowie das Recht auf Eigentum.
Man kann die Bedeutung des Vorgangs kaum überschätzen, dass ein König einer Gruppe opponierender Hochadliger nicht nur Rechte verbriefte, sondern ihnen obendrein auch noch ein Widerstandsrecht gegen die eigenen königlichen Entscheidungen einräumte. Dementsprechend gross war der Einfluss auf die weltweite Rechtsgeschichte.
1222: Charta von Mandén (Mali)
Aus sieben Abschnitten bestehende Charte, die grund-legende Rechte wie Gleichheit und die Unantastbarkeit menschlichen Lebens definiert.
wahrscheinlich älteste «Verfassung» der Welt
Aufgrund der Quellenlage sind die historischen Einzelheiten jedoch äusserst unsicher.
Seit 2009 ist sie UNESCO Weltkulturerbe.
1542: Leyes Nuevas (Spanien)
Auf Betreiben des Dominikanerpaters Bartolomés de Las Casas, der auch als «Apostel der Indianer» bezeichnet wird, erliess der König von Kastilien Karl V eine Reihe von Verordnungen und Verwaltungsvorschriften, die auch das Verbot der Versklavung und Ausrottung der südamerikanischen Indios beinhalteten.
1628: Petition of Right (England)
Das Parlament fordert die Stärkung der eigenen Rechte: Die Steuererhebung soll neu geregelt werden und kein Bürger soll ohne Verhandlung hingerichtet werden dürfen.
1672: De iure naturae et gentium (Schweden)
Der Professor Samuel von Pufendorf schreibt im zweiten seiner acht Bücher von Natur- und Völkerrecht: «Und so hat jeder Mensch eine ausserordentliche Würde.»
1689: Bill of Rights (England)
Das englische Parlament wird in seinen Rechten gegenüber der Krone gestärkt. Abgeordnete geniessen Immunität und Meinungsfreiheit.
- Juni 1776: Virginia Declaration of Rights (USA)
Vom Konvent von Virginia einstimmig verabschiedet garantierte das Dokument Presse- und Religionsfreiheit, Volkssouveränität und das Prinzip der Gewaltenteilung.
Es hatte grossen Einfluss auf die Ausformulierung der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika im selben Jahr sowie der späteren US-amerikanischen Bill of Rights und der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (beide von 1789).
- Juli 1776: Unabhängigkeitserklärung (USA)
Der grösstenteils von Thomas Jefferson verfasste und vom Zweiten Kontinentalkongress verabschiedete Text stellt die Gründungsurkunde der Vereinigten Staaten dar und ist eines der wirkungsmächtigsten Dokumente der demokratischen Staatsphilosophie.
Das Dokument hält offiziell fest, dass alle Menschen gleich sind, und jedes Individuum Menschenrechte besitzt.
- August 1789: Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (Frankreich)
Das Dokument der französischen Nationalversammlung ist die erste europäische Menschenrechtserklärung und legt den Grundstein für Demokratie und Freiheit.
- September 1776: Bill of Rights (USA)
Die zehn Zusatzartikel zur Verfassung gewähren Bürgern unter anderem Religions- und Meinungsfreiheit sowie das Recht Waffen zu tragen.
- Dezember 1948: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Uno
Die UN-Erklärung ist nicht unmittelbar rechtsverbindlich. Trotzdem ist sie eine der wichtigsten Quellen für viele nationale Verfassungen und Menschenrechtsverträge.
1949: Genfer Konventionen
Von 196 Staaten unterzeichnet besteht diese Konvention aus insgesamt vier Abkommen, die darauf abzielen, die Gräuel des Krieges zu mildern:
- Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde
- Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See
- Behandlung von Kriegsgefangenen
- Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten
Das Genfer Abkommen wurde 1977 und 2007 um drei Zusatzprotokolle ergänzt.
Die Kontrolle über die Einhaltung des Abkommens obliegt dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes und der Staatengemeinschaft.
- November 1950: Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
Die Konvention ist für die meisten europäischen Staaten, darunter sämtliche EU-Staaten rechtsverbindlich – Allerdings nicht für die EU selbst, da diese auch in Fragen der Menschenrechte keine fremden Richter duldet.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg und in Luxemburg wacht über ihre Einhaltung.
1966: UN-Zivilpakt und UN-Sozialpakt
Damit die Menschenrechte rechtsverbindlich werden konnten, verabschiedeten die Vereinten Nationen 1966 zwei Menschenrechtspakte, die 1976 in Kraft traten und die den Menschenrechten eine rechtliche Form gaben. Gemeinsam mit der Allgemeinen Erklärung bilden der UN-Zivilpakt und der UN-Sozialpakt den internationalen Menschenrechtskodex.
- Dezember 2009: Charta der Grundrechte der Europäischen Union
Mit dieser Charta wurden die Grundrechte in der Europäischen Union erstmals umfassend schriftlich niedergelegt. Sie orientiert sich an der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Europäischen Sozialcharta, den mitgliedstaatlichen Verfassungen und internationalen Menschenrechtsdokumenten, aber auch an der Rechtsprechung der europäischen Gerichtshöfe. Sie ist für die EU und ihre Organe bindend; für die Mitgliedsstaaten ist sie dies ausschliesslich bei der Durchführung des Rechts der Union.
Die Charta wurde ursprünglich vom ersten europäischen Konvent unter dem Vorsitz von Roman Herzog erarbeitet und u. a. vom Europäischen Parlament und vom Rat der Europäischen Union gebilligt. Zur Eröffnung der Regierungskonferenz von Nizza am 7. Dezember 2000 wurde sie erstmals feierlich proklamiert. Die Grundrechtecharta sollte dann am 1. November 2006 als Teil des Europäischen Verfassungsvertrages in Kraft treten, der jedoch scheiterte. Rechtskraft erlangte sie daher erst am 1. Dezember 2009, gemeinsam mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon.
Regionale Konventionen
1969 Amerikanische Menschenrechtskonvention (AMRK)
1918 Afrikanische Charta der Rechte der Menschen und Völker (Banjul-Charta)
1994 Arabische Charta der Menschenrechte 2008 revidiert.
2000 Charta der Grundrechte der Europäischen Union
*
Wie erfolgreich waren diese Meilensteine? Vor allem: Was brachten sie den Menschen? – Schauen wir uns einige davon etwas genauer an:
Bereits die Magna Carta Libertatum war längst nicht von Anfang an jener Fels in der Brandung, als der sie uns heute erscheint. Keine der beteiligten Parteien war damit wirklich zufrieden, und so war der durch ihre Anerkennung erreichte Frieden nur von kurzer Dauer.
Der König Johann ohne Land wandte sich an seinen Oberlehnsherrn Papst Innozenz III., der die Magna Carta am 24. August 1215 für nichtig erklärte und jedem, der sie befolgte, die Exkommunikation in Aussicht stellte.
Es folgten weitere Rebellionen und Bürgerkriege. Erst nach Johanns Tod kehrte einigermassen Ruhe ein. Bis zu ihrer endgültigen Fassung von 1225 wurde das Dokument mehrfach angepasst und neu bestätigt. Der neue König, Heinrich III, brauchte damals Geld für seine Verwaltung und der grosse Rat machte die Bewilligung der Steuererhöhung von der Anerkennung der Magna Carta abhängig.
Fortan war die Kirche für die Überwachung der Einhaltung der Magna Carta zuständig, und so kam es, dass plötzlich jenen, die dagegen verstiessen die Exkommunikation drohte. Dies führte zur endgültigen Akzeptanz der Magna Carta, und gegen Ende der Herrschaft Heinrichs III. war eine Missachtung der Magna Carta durch den König fast undenkbar geworden. – Das Ringen um die Macht dauerte freilich noch über Jahrhunderte an.
Dass die Magna Carta heute als Dokument englischer Freiheitsrechte und als das wichtigste englische Staatsgrundgesetz gilt, von dem auch wesentliche Impulse auf die Rechtsentwicklung der Vereinigten Staaten ausgingen, ist im Grunde das Werk eines «Spin Doctors». Dieser hiess Sir Edward Coke. Er war Anwalt und Chief Justice von Jakob I. Er benutzte die Magna Carta, um die Gegner des Königs nicht als Revolutionäre, sondern als Bewahrer der Traditionen darzustellen. Während er es mit den historischen Fakten nicht immer sehr genau nahm, begründete seine Auslegung der Magna Carta doch das Konzept der Begrenzung der Macht des Königs. Coke benutzte das Dokuments auch als Basis der Petition of Right, deren Unterzeichnung das Parlament von Karl I. forderte. Diese Auseinandersetzung endete bekanntlich mit der Enthauptung des Königs…
Coke verfasste auch die erste Charta der Virginia Company, die den Kolonisten ihre Rechte garantierte. Seine Schriften zur Magna Carta beeinflussten schliesslich die Gründer der USA, vor allem Thomas Jefferson und James Madison und durch sie die Verfassung der Vereinigten Staaten.
*
Die Leyes Nuevas zum Schutz der Indios in Peru wurden in guten Absichten erlassen. Doch, zwischen Barcelona und Lima liegen 10’000 Kilometer, und auch die besten Gesetze sind nur etwas wert, wenn sie auch durchgesetzt werden können. Und wir reden hier vom 16. Jahrhundert…
Die Bestimmungen wurden darum zunächst weitgehend ignoriert, und als der neue Vizekönig von Peru sie durchsetzen wollte kam es zu einem Aufstand der Encomenderos, die es als ihr wohlerworbenes Recht betrachteten, die Indios auszubeuten, da sie das Land schliesslich für den König erobert hatten. Ein Teil der Verordnungen wurde daher 1545 – nur drei Jahre nach Erlass! – ausser Kraft gesetzt.
*
Kommen wir zur Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die am 26. August 1789 von der französischen Nationalversammlung verabschiedet und veröffentlicht wurde. Sie wurde im Jahr 2003 zum Weltdokumentenerbe erklärt. Im Unterschied zu vorangegangenen Dokumenten ist sie von einem enormen Sendungsbewusstsein geprägt. Sie sollte für alle Menschen gelten – Frauen und Sklaven in den Kolonien freilich ausgenommen…
So war es an der Frauenrechtlerin Olympe de Gouges, eine «Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne » (Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin) zu verfassen, um sie der französischen Nationalversammlung zur Verabschiedung vorzulegen. Sie forderte darin die volle rechtliche, politische und soziale Gleichstellung der Frauen.
Die neuen Machthaber empfanden das als unerwünschte Einmischung in die den Männern vorbehaltene Politik. Zum Verhängnis wurde ihr schliesslich ein Text mit dem Titel «Die drei Urnen». Sie prangerte darin das Morden während der Zeit des «Grossen Terrors» an und forderte eine Volksabstimmung über drei mögliche Staatsformen. – «Die Mehrheit soll gewinnen!»
Obwohl dieses Schreiben ihr Versuch war, eine eindeutige Positionierung der Gesellschaft gegen jegliche Monarchie zu erreichen, wurde ihr von ihren politischen Gegnern bereits die Wahlmöglichkeit für die Monarchie als pro-monarchistische Bestrebung ausgelegt.
Im Sommer 1793 wurde sie verhaftet und als Royalistin angeklagt. Das Revolutionstribunal, im dem eine Verteidigung für überflüssig erachtet wurde, machte kurzen Prozess. Am 3. November 1793 wurde das Todesurteil auf der Place de la Concorde durch die Guillotine vollstreckt.
Aus dem Gefängnis heraus erinnerte sie ihre Ankläger und die Öffentlichkeit an das wichtigste aller Menschenrechte, die Meinungsäusserungsfreiheit:
«Unerschrocken, gerüstet mit den Waffen der Redlichkeit, trete ich euch entgegen und verlange von euch Rechenschaft über euer grausames Treiben, das sich gegen die wahren Stützen des Vaterlandes richtet. (…) Ist nicht in Artikel 11 der Verfassung die Meinungs- und Pressefreiheit als kostbarstes Gut des Menschen verankert? Wären denn diese Gesetze und Rechte, ja die ganze Verfassung nichts weiter als hohle Phrasen, jedes Sinnes entleert? Wehe mir, ich habe diese traurige Erfahrung gemacht.»
Olympe de Gouges ist hier stellvertretend für viele Menschen genannt, die dem Blutrausch der französischen Revolution zum Opfer fielen. Vom ersten Tag an wurden Köpfe abgeschlagen und auf Spiessen herumgetragen. Es wurde guillotiniert, es wurde kartätscht, es wurde ertränkt. Und das massenhaft. Von den hehren Idealen der Menschenrechtserklärung war bald nichts mehr übrig. An ihre Stelle traten Furcht, Terror und Krieg. Und im Ergebnis wurde ein König geköpft, um ihn durch einen Kaiser zu ersetzen. Und es folgten noch mehr Kriege.
*
Nach dem 2. Weltkrieg hatten Menschenrechte Hochkonjunktur: Die Uno, der Europarat weitere Organisationen, Nationalstaaten und schliesslich sogar die EU verfassten und proklamierten eigene Kataloge.
Leider entpuppten sich diese gerade in der jüngsten Vergangenheit als Schönwetterkonstrukte: Aus Anlass einer Pandemie mit einer Überlebenschance von über 99 Prozent wurden Menschenrechte hinweggefegt. Freiheiten wurden auf dem Altar scheinbarer Sicherheit geopfert. Nicht nur das: Politiker, Funktionäre und Medienschaffende überboten sich mit neuen Forderungen und waren enorm kreativ beim Erfinden neuer Gründe zur Beschränkung klarer verfassungsmässiger Rechte. Parlamente liessen den Regierungen und den Gerichten freie Hand. Auf die bei Grund- und Freiheitsrechtseinschränkungen vorgeschriebene Güterabwägung wurde weitgehend verzichtet. Ja, selbst die Meinungsäusserungsfreiheit, für die Olympe de Gouges und viele vor und nach ihr mit dem Leben bezahlten, ist längst nicht so sicher, wie es die Proklamationen versprechen.
Aus der Geschichte nichts gelernt
Trifft es wenigstens zu, dass aus der Geschichte die richtigen Lehren gezogen und «Sicherungen» geschaffen wurden, die eine Wiederholung der Gräuel des vergangenen Jahrhunderts verhindern werden?
Mit dieser Frage beschäftigte sich 2016 der 71. Deutsche Juristentag in Essen. Der inzwischen verstorbene Rechtswissenschaftler Bernd Rüthers stellte dort zur Ernüchterung seines Publikums fest, dass Juristen keine Helden sind und sich, was den persönlichen Mut angeht, nicht vom Durchschnitt der Bevölkerung abheben. Er sei in Sorge, «dass wir, wenn wir in eine ähnliche Situation eines Systemwechsels kämen, bei den bundesrepublikanischen Funktionseliten der Gegenwart wenig andere Verhaltensweisen [als zu Zeiten des Nationalsozialismus] entdecken würden.»
Das war vier Jahre vor «Corona». Und schon damals erhoben sich kaum kritische Stimmen, als die Bundeskanzlerin das Staatsoberhaupt absetzte, im Alleingang – ohne Parlament oder Gerichtsbeschluss – völkerrechtswidrig den Grenzschutz aufhob oder eine unliebsame Oppositionspartei vom Verfassungsschutz überwachen liess.
Zu ähnlich pessimistischen Schlüssen, wie Rüthers, gelangte auch die Präsidentin des Bundesgerichtshofs, Bettina Limperg, die in ihrem Referat anhand von Beispielen aufzeigte, wie eine Ideologie, wenn sie nur genügend Kraft hat, den Rechtsstaat zu zersetzen vermag: «Wir sehen, dass die Juristinnen und Juristen ganz freiwillig und ganz frühzeitig alle Gesetzesbindung von sich aus verlassen haben. Der Nationalsozialismus kommt vor dem Rechtsstaat. Der Rechtsstaat ordnet sich dem Nationalsozialismus unter. Es waren ganz frühe Entscheide des deutschen Richterbundes, des deutschen Anwaltvereins vom Mai 1933, sich in den Dienst des Nationalsozialismus zu stellen. Wir haben 1935 Richterleitsätze, die veröffentlicht wurden, die jeder lesen konnte, in denen ganz klar war und ganz klar zitierfähig offen ausgesprochen wurde, dass grundlegend für die Auslegung aller Rechtsquellen die nationalsozialistische Weltanschauung ist.»
Ein anschauliches Beispiel für diese Pervertierung des Rechts liefert die Umsetzung von «T4» – der «Euthanasieaktion». In einem einzigen Satz auf seinem persönlichen Briefpapier verfügte Hitler «die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.»
Lothar Kreyssig, ein mutiger Amtsgerichtsrat, hatte wegen des krassen Unrechtscharakters der Aktion Protestbriefe an Reichsjustizminister Gürtner geschrieben. Nachdem man ihm Hitlers Autorisierung zeigte, wandte er ein, dass selbst auf der Grundlage der positiven Rechtstheorie Unrecht nicht Recht werden könne. Daraufhin erteilte ihm Gürtner eine sehr einfache Antwort: «Ja, wenn Sie den Willen des Führers als Rechtsquelle, als Rechtsgrundlage nicht anerkennen können, dann können Sie nicht Richter bleiben.» Kreyssig wurde kurz darauf in den Ruhestand versetzt.[1]
Die Befürchtungen des Essener Juristentages waren aus heutiger Sicht prophetisch. Mit atemberaubender Lässigkeit erklärte beispielsweise der ehemalige deutsche Wirtschaftsminister, Robert Habeck, man brauche zur Durchsetzung der Coronamassnahmen zu Kontaktbeschränkung nur die Rechtsgrundlage auf einen «neuen festen Grund» zu stellen, und schon sei Recht, was dem Staat bis anhin verboten war. Mittlerweile will die Bundesregierung sogar die Beweislast umkehren, wenn es um die Herkunft von Geld geht. Während der Mörder sich zurücklehnen und abwarten kann, weil ihm das Verschulden nachgewiesen werden muss, ist es bei Steuerhinterziehung der Staatsanwalt, der die Daumen drehen kann.
An Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen auch die Aussagen des ehemaligen Uno-Sonderberichterstatters über Folter, Nils Melzer: Im Zusammenhang mit der Behandlung von Julian Assange sprach er davon, dass sich vor unseren Augen ein mörderisches System kreiere. Im Zusammenhang mit der Polizeigewalt gegen «Corona-Proteste» attestierte er den Behörden eine verzerrte Wahrnehmung der Verhältnismässigkeit, und – was noch schwerer wiegt – er stellte fest, dass die Überwachung der Polizei in Deutschland nicht funktioniere. Das heisst: Ausgerechnet jene Staatsmacht, die das Gewaltmonopol des Staates für sich reklamiert und durchsetzt, läuft an der langen Leine.
Bundeskanzler Scholz ging sogar noch weiter mit dem Satz: «Es darf keine roten Linien geben, das hat uns diese Pandemie nun wirklich gezeigt». Dabei ist eine Verfassung oder ein Grundgesetz nichts anderes als eine dicke rote Linie, die den Menschen Rechte und Freiheiten garantiert, die eine mit zeitweiliger Macht ausgestattete Regierung zu beachten hat. Wer keine Grenzen anerkennt, ist eine Gefahr für seine ganze Umgebung und ganz sicher eine Gefahr für die Demokratie.
Als wäre das nicht schon schlimm genug, unterliess es die Bundesregierung in ihrem Bericht zur Menschenrechtslage in Deutschland an die Uno das Thema auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Diese Aufgabe sollte dem ZAAVV zufallen.
Richten wir den Blick noch einmal auf die für eine Demokratie unentbehrliche Meinungsäusserungsfreiheit. Auch hier haben wir es nicht mehr nur mit einem Wetterleuchten am Horizont zu tun.
Politiker, Funktionäre, ja sogar Journalisten bekennen mittlerweile freimütig, dass sie sich durch das Recht der Andersdenkenden, ihre Meinung frei zu äussern, in ihren Gestaltungsmöglichkeiten eingeschränkt fühlen. Stellvertretend für viele sei hier das Beispiel von John Kerry, dem ehemaligen Sondergesandter des US-Präsidenten für das Klima, erwähnt, der Anfang Oktober 2024 ausführte, wie sehr die globalen Eliten darunter litten, dass die Meinungsbildung im Internet ihrer Kontrolle entzogen sei. Das Regieren sei schwierig geworden, und die einstigen Richter über die Fakten seien weitgehend verschwunden. Die Menschen würden sich deshalb ihre eigenen Informationen suchen, wodurch man in einen Teufelskreis gelange. In seiner eigentlichen Kampfansage gegen den ersten Verfassungszusatz führte Kerry weiter aus, Demokratien auf der ganzen Welt kämpften derzeit mit dem Fehlen einer Art Wahrheitsschiedsrichter, und es gebe niemanden, der definiere, was wirklich die Fakten seien.
Sollte das Regieren tatsächlich schwieriger geworden sein, wie Kerry behauptet, so beweist das nur, dass die Meinungsäusserungsfreiheit gut funktioniert, denn in einer Demokratie geht die «Staatsgewalt vom Volke aus», und dessen Interesse ist es zuallerletzt, den Regierenden das Regieren einfach zu machen.
Lord Acton kommt das Verdienst zu, die Erfahrungen der Geschichte zu einem ebenso einfachen wie richtigen Satz zu verdichten: «Macht korrumpiert, und totale Macht korrumpiert total. Die Freiheit der Andersdenkenden ist vor allem deshalb wichtig, weil sie das einzige Gegenwicht zur Macht darstellt. Ohne sie ist eine Demokratie nicht denkbar.
Auf sandigem Grund
Nach diesem kurzen Abriss lassen sich mit Blick auf die Geschichte einige wichtige Feststellungen treffen:
- Menschenrechte, beziehungsweise ihre Beachtung durch die Mächtigen, sind in der Weltgeschichte eine Ausnahmeerscheinung. Die meiste Zeit über galt das «Recht des Stärkeren».
- Die Geschichte der Menschenrechte ist von Brüchen und Rückschlägen durchzogen.
- Nährboden der Menschenrechte sind Kriege und Krisen, sie mussten erkämpft und häufig mit Blut bezahlt werden.
- In «guten Zeiten» der Sinn schwindet der Sinn für Menschenrechte.
- Ihre Gewährleistung erfordert Wachsamkeit und Wehrhaftigkeit.
- Menschenrechte verschwinden nicht auf einen Schlag, sie erodieren.
- Gerichte bieten nur einen unzureichenden Schutz.
- Der Kampf für Menschenrechte ist nie zu Ende.
Aus der letzten Feststellung ergibt sich ein Auftrag für alle Menschen, die den Wert individueller Freiheit kennen und zu schätzen wissen. Stellen wir also Lenins berühmter Frage:
«Was tun?»
Robert Habeck wollte, wie erwähnt, die Rechtsgrundlage auf einen «neuen festen Grund» stellen. Er ist Ideologe und verkennt, dass das bestehende Recht dieser feste Grund ist. Die in Verfassungen, Grundgesetzen und Internationalen Deklarationen verbrieften Freiheits- und Menschenrechte sind Rechtsgrundlagen, an die sich sämtliche staatlichen Institutionen – also auch Herr Habeck und Konsorten – zu halten haben. Sie schützen die Menschen, die den Staat tragen, vor Übergriffen in ihre Rechte und Freiheiten. Sie sind Abwehrrechte gegen die Regierenden, und deren Verbindlichkeit kann darum nicht im Ermessen der Mächtigen liegen. Staaten wurden schliesslich nicht erfunden, um eine Adresse zu schaffen, wohin wir unsere Steuern schicken müssen. Staaten haben einen Zweck, und dieser besteht im besseren Schutz der individuellen Interessen jedes einzelnen Menschen.
Der feste Punkt
Die Suche nach dem festen Grund, oder in seinem Fall nach dem festen Punkt trieb auch einen der wichtigsten Mathematiker und Erfinder der Antike umher. Archimedes von Syrakus, der Entdecker der Hebelwirkung, erklärte anschaulich, dass es, um die Welt aus den Angeln zu heben, nur einen festen Punkt brauche.
Zumindest einen recht soliden Punkt zur Aushebung der Rechtsordnung haben Politiker, wie Robert Habeck, mittlerweile gefunden. Es ist dies der Notstand. Also jene Situation, die zur Verletzung fremder Rechtsgüter berechtigt. Es ist mittlerweile sogar so, dass jene, die im Notstand Sonderkompetenzen für sich reklamieren, diesen auch gleich ausrufen. Im grössten Anwendungsfall wird sogar die blosse Behauptung einer Notstandsituation als ausreichend erachtet, um in schwerwiegender Art und Weise in private Vertrags- und Eigentumsverhältnisse einzugreifen. Wir haben es hier mit einem Versagen der Gewaltenteilung und der Justiz zu tun.
Das ist natürlich nicht jener feste Punkt, den es zum Schutz der Menschen- und Freiheitsrechte braucht. Aber auch den gibt es, und wir brauchen ihn nicht einmal neu zu erfinden:
Den besten Schutz vor Tyrannei und Diktatur bietet die Demokratie. Freilich nicht das, was die nicht gewählten Funktionäre der EU als Demokratie bezeichnen, und was sie angeblich verteidigen. Nein eine Demokratie im Sinne des Wortes «Volksherrschaft», also eines Systems, in dem alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht.
Am 29. April 1954 hielt der Rektor der Universität Zürich, Prof. Dr. Zaccharia Giacometti, eine Festrede mit dem Titel: «Die Demokratie als Hüterin der Menschenrechte». Er ging dabei der Frage nach, unter welchen Voraussetzungen die Menschenrechte am besten geschützt sind. Dazu führte er wörtlich aus:
«Ein solches Wächteramt wird nun meines Erachtens das Volk unter gewissen Voraussetzungen zweifellos auch versehen, nämlich dann, wenn es für die freiheitliche Demokratie vorbereitet, politisch reif ist. Ein Volk erscheint aber in dem Falle für die echte Demokratie reif, wenn es bestimmte Voraussetzungen erfüllt.
Erstens muss die Freiheitsidee im Individuum und im Volke lebendig und das rechtsstaatliche Naturrecht zwar nicht als Recht, aber als ethische Kraft wirksam sein; es müssen mit anderen Worten freiheitliche Wertvorstellungen herrschen, aber nicht als vom Augenblick geborene euphoristische Stimmungen oder opportunistische Eingebungen, sondern als tiefe politische Überzeugungen, die das Bewusstsein des Volkes dauernd beherrschen und von den treibenden Kräften des politischen Lebens getragen werden.
Zweitens muss das Volk eine freiheitliche Tradition besitzen. Seine freiheitlichen Überzeugungen müssen in einer solchen Tradition verwurzelt sein. Tradition ist aber, wie Max Huber gesagt hat, geschichtliches Bewusstsein, und freiheitliche Tradition infolgedessen freiheitliches historisches Bewusstsein. Ein solches geschichtliches Bewusstsein besitzt aber die Demokratie in dem Falle, dass eine freiheitliche Vergangenheit auf sie nachwirkt, dass also die vorausgegangene Generation der lebenden Generation einen Schatz an freiheitlichen politischen Vorstellungen, Anschauungen und Erfahrungen überliefert hat.
Drittens muss sich die lebende Generation diesen ererbten Schatz an freiheitlichen politischen Einsichten und an freiheitlichen politischen Erfahrungen ihrerseits aneignen, ja erkämpfen durch entsprechende politische Erziehung, Erprobung und Bewährung als Verfassungsgesetzgeber und einfacher Gesetzgeber einer echten Demokratie.»
Ja, geschätzte Damen und Herren, Demokratie ist mehr als nur abstimmen. Demokratie ist eine gelebte Kultur, die nur durch ständige Pflege zur nötigen Reife gelangen kann.
Dass die Demokratie auch Mängel hat, ist offensichtlich und braucht hier nicht weiter erörtert zu werden. Sie ist, wie schon Winston Churchill feststellte, die schlechteste Regierungsform – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert wurden…»
Was darf Demokratie?
Es geht gerne vergessen, dass auch Demokratie nicht alles darf. Auch sie hat die Interessen des Einzelnen zu beachten. Benjamin Franklin, der gewiss kein Antidemokrat war, aber ein Freund der Freiheit mit viel Menschenkenntnis und mit grosser politischer Erfahrung im Umgang mit Unabhängigkeit, Föderalismus und Minderheitenschutz, brachte das mit einem brillanten Aphorismus zum Ausdruck: «Demokratie, das ist, wenn zwei Wölfe und ein Schaf über die nächste Mahlzeit abstimmen. Freiheit, das ist, wenn das Schaf bewaffnet ist und die Abstimmung anficht.» – Auf unseren Kontext übertragen bedeutet das, dass auch die Demokratie nicht das Recht hat, dem Einzelnen vorzuschreiben, was er sich in den Arm zu spritzen hat.
Mehrheitsentscheide haben naturgemäss die Eigenschaft, dass sie einer Minderheit etwas aufzwingen. In der demokratischen Diskussion muss es darum stehts darum gehen, auf lange Sicht einen Ausgleich aller Interessen herbeizuführen. Am Ende muss das Gemeinwohl profitieren, nicht die Mehrheit. Das lässt sich am Beispiel von Steuern darstellen, die, wenn sie über ein zumutbares Mass hinausgehen, Raub sind. Das ist dann der Fall, wenn sich eine Mehrheit unter dem Deckmantel der Demokratie an den «Gutverdienenden» oder «Reichen» schadlos hält.
Das wissen natürlich auch die Linken und die Etatisten, also jene, die beim kleinsten Problem auf die Allmacht und Weisheit des Staates vertrauen. Sie greifen zu einem Trick, der darin besteht, aus dem Handeln des Einzelnen eine Gefahr für alle abzuleiten. Das hat beispielsweise beim Rauchen gut funktioniert: Man gestand zwar dem Einzelnen das Recht zu, mit seinem Körper zu machen, was er will, aber um Dritte vor dem Passivrauchen zu schützen, wurden restriktive Regelungen durchgesetzt. Da der Machtwille dieser Menschen aber unersättlich ist, gehen sie bereits einen Schritt weiter – Richtung Totalverbot.
Diese Denkweise hat keine Achtung mehr vor der Freiheit der Andersdenkenden. Mit dem Argument, Menschen vor Diskriminierung schützen zu wollen, missachten sie Vertrags- und Meinungsäusserungsfreiheit. Mit dem Argument, Menschen vor dem Klimawandel schützen zu wollen, zerstören sie Wirtschaft und Lebensqualität.
Der feste Punkt dieses im Wesen totalitären Gesinnungsterrors besteht in der Überhöhung des Kollektivs zu Lasten des Individuums, was im Kern faschistisch ist.
Die Nationalsozialisten brachten die Ideologie des völkischen Kollektivismus, der «Volksge-meinschaft» auf folgende Kurzformel:
«Du bist nichts, dein Volk ist alles!»
Genau in diesem Geiste, der «den Volkswillen», oder wie es Robespierre sagte, das «höchste Wesen, das «Génie» oder die «Tugend» zum obersten Wert überhöht, erfolgte auch der erste Auftritt der inzwischen aus dem Bundestag verabschiedeten Abgeordneten der Grünen: Emilia Fester. Sie sprach sich klar für eine Impfpflicht aus und gab (an die AfD gewandt) am 17. November 2022folgendes zu Protokoll:
«Wenn Sie und ihre FreundInnen der Freiheit sich hätten impfen lassen, dann wäre ich jetzt wieder frei! […] Ihre [die der Gegner einer Impfpflicht] individuelle Freiheit endet dort, wo meine beginnt, wo die kollektive Freiheit beginnt. Impfen darf keine in die individuelle Entscheidung mehr sein. Es ist keine.»
So etwas kann nur jemand sagen, an dem rund dreihundert Jahre europäische Geistesge-schichte spurlos vorbeigegangen sind. Wer hingegen vom Geist der Aufklärung durchdrungen ist und das Wesen von Freiheitrechten, die uns vor dem übergriffigen Staatsapparat schützen, erkannt hat, kann bei dem Gedanken an eine kollektive Freiheit nur den Kopf schütteln. Freiheit ist immer die Freiheit des Individuums.
Und trotzdem ist die – reife – Demokratie das wirksamste Mittel, um der Macht Grenzen zu setzen. Und genau das ist Sinn und Zweck von Menschenrechten. Diese sind Abwehrrechte gegen den Staat. Dieser wird zu einem Dulden verpflichtet, und zwar muss er Dinge auch dann dulden, wenn sie ihm gegen den Strich gehen. Sie stehen den Menschen zu, weil sie Menschen sind, und sie dürfen niemals zu Akten obrigkeitlicher Gnade werden!
*
Im Vorwort zu ihrem grossartigen Buch «Die Torheit der Regierenden» («The March of Folly») schreibt die US-amerikanische Journalistin und Historikerin Barbara Tuchman, in der Regierungskunst, so scheine es, blieben die Leistungen der Menschheit weit hinter dem zurück, was sie auf fast allen anderen Gebieten vollbracht hat. Das stimmt leider. Umso entschlossener müssen wir jene wenigen Errungenschaften, die es dennoch gibt, und dazu gehören die Grund- und Freiheitsrechte zweifellos, verteidigen.
Nicht ohne Grund erhält der Schweizer Wehrmann seine persönliche Waffe noch in ziviler Kleidung in die Hand gedrückt. Es wird gesagt, es sei ein Vertrauensbeweis des Staates, dass diese ausser Dienst auch zu Hause aufbewahrt werden muss. – Ich glaube, das Gegenteil ist richtig: Es ist Ausdruck des Misstrauens der Bürger gegenüber dem Staat.
Schweizer sind nämlich zuallererst Bürger, und erst in zweiter Linie Soldaten.
Unsere Bundesverfassung garantiert uns viele schöne und wichtige Freiheiten und Rechte. Doch Freiheiten und Rechte sind wertlos, wenn sie nicht durchgesetzt und verteidigt werden können! Und nochmals, am Ende braucht es dafür auch Waffen. Genau das meinte unser Nationaldichter und erster Staatsschreiber im Kanton Zürich, Gottfried Keller, als er im «Fähnlein der sieben Aufrechten» schrieb:
«Keine Regierung und keine Bataillone vermögen Recht und Freiheit zu schützen, wo der Bürger nicht imstande ist, selber vor die Haustüre zu treten und nachzusehen, was es gibt.»
[1] Zitiert nach Ian Kershaw, „Hitler – 1936-1945“, London 2000, Seite 350.
