2014 warnte der damalige deutsche Bundespräsident Gauck auf Staatsbesuch weilend die Schweiz vor den Gefahren der direkten Demokratie. Ein Blick aus der Schweiz nach Ludwigshafen am Rhein zeigt, dass es höchste Zeit ist, «zurückzuwarnen».
Das auf Seneca und Plutarch zurückgehende Zitat «verleumde nur wacker, es bleibt immer etwas hängen.» (audacter calumniāre, semper aliquid haeret.) ist in Deutschland politisches Programm. Alle Parteien befolgen es. Bis auf die AfD – sie ist es, die verleumdet wird.
Dass sich der Verfassungsschutz bereitwillig instrumentalisieren lässt und sich in die Niederungen der Tagespolitik begibt, ist nichts Neues. Aber nun erreichte die Hetze gegen die «Alternative für Deutschland» in Ludwigshafen am Rhein ein beunruhigendes Level. Ausgerechnet der Kandidat jener Partei, die Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild fordert, darf nicht zur Oberbürgermeister-Wahl antreten.
Die nicht wieder zur Wahl antretende Oberbürgermeisterin, Jutta Steinruck, die bei der letzten Wahl noch der SPD angehörte und von Bündnis 90/Die Grünen sowie der Partei «Die Linke» unterstützt wurde, erkundigte sich beim Abteilungsleiter Verfassungsschutz des rheinland-pfälzischen Ministeriums des Innern und für Sport, ob der in Umfragen starke Kandidaten der AfD, Joachim Paul, über die nötige Verfassungstreue verfüge.
Die zuständigen, weisungsgebundenen Beamten lieferten wie bestellt: Sechzehn «aus Sicht des Verfassungsschutzes relevante offene und gerichtsverwertbaren Erkenntnisse» gingen bei der noch amtierenden Oberbürgermeisterin ein.
Nichts ist ihnen noch peinlich
Man muss dem Nachrichtenportal «Nius» zustimmen: Die 16 Erkenntnisse sind ein gedruckter Witz. So wird Paul beispielsweise vorgeworfen, er habe Rezensionen über eines der erfolgreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts, J. R. R. Tolkiens «Herr der Ringe», verfasst, was auf eine tiefe Verpflichtung dem Volk, seiner Kultur, und den Vorvätern gegenüber schliessen lasse. Das gesamte Werk Tolkiens spiegle eine konservative Geisteshaltung wider, die «gerade, weil sie ohne Weiteres in die Breite wirkt, von besonderem Wert für den zeitgenössischen Konservatismus ist.» – Man braucht nur in den Mainstream-Medien nach «Tolkien» zu suchen, um zu erkennen, wie absurd das ist.
Der Wahlausschuss in Ludwigshafen nahm solchen Unsinn nicht nur ernst; nein, er schloss den Kandidaten der AfD kurzerhand von der Wahl aus.
Den Schutz des «Guten Glaubens», der in der Schweiz und anderen zivilisierten Ländern Verfassungsrang geniesst, hat in Deutschland, das einen Immanuel Kant, der mit dem kategorischen Imperativ den Goldstandard des ethischen Handelns legte, in der politischen Realität einen schweren Stand. Doch, auch wenn der «gute Glaube» (bona fides) im Grundgesetz nicht ausdrücklich als solcher erwähnt ist, gibt es verwandte Grundsätze und Grundrechte, die den Schutz des Vertrauens in Recht und Staat gewährleisten. Ausserdem hat das Bundesverfassungsgericht Regeln entwickelt, wonach der Bürger nicht unter einen Generalverdacht gestellt werden darf, und die Verwaltung im Einzelfall prüfen muss, bevor sie Unredlichkeit unterstellt.
Solche «Kleinigkeiten» kümmert das Machtkartell von Ludwigshafen am Rhein nicht. Es nahm einen Entscheid vorweg, der in einer Demokratie ausschliesslich den Wählern zusteht. Wer das tut, zerstört die Demokratie – ebenso, wer es zulässt.
Das Volk ist der Chef
Selbst wenn sich Joachim Paul, der sich gute Chancen ausrechnen durfte, etwas zu Schulden kommen lassen hätte, wäre das kein Grund, ihn des passiven Wahlrechts zu berauben. Es mag Gründe geben, die gegen ihn sprechen, aber diese zu werten, ist Aufgabe des Souveräns.
Die Geschichte kennt viele Fälle von Menschen, die zu Recht oder zu Unrecht, sogar im Gefängnis sassen und in politische Ämter gewählt wurden:
- Nelson Mandela (Südafrika)war ein führender Anti-Apartheid-Kämpfer und verbrachte 27 Jahre im Gefängnis (1962–1990). Er zu einer globalen Symbolfigur für Widerstand gegen Rassentrennung, und nur vier Jahre nach seiner Freilassung, wurde er der erste schwarze Präsident Südafrikas.
- Jawaharlal Nehru (Indien) war eine Schlüsselfigur im indischen Unabhängigkeitskampf und wurde mehrfach von den britischen Kolonialherren inhaftiert. Nach der Unabhängigkeit 1947 wurde er Indiens erster Ministerpräsident.
- Aung San Suu Kyi (Myanmar): Die Demokratieaktivistin stand jahrelang unter Hausarrest (1989–2010). Ihre Partei, die Nationale Liga für Demokratie (NLD), gewann 1990 die Wahlen, die aber vom Militär annulliert wurden. Nach ihrer Freilassung 2015, führte sie die NLD erneut zum Sieg und wurde de facto Regierungschefin.
- Lech Wałęsa (Polen): Der Gewerkschaftsführer der Solidarność-Bewegung wurde 1981 nach der Verhängung des Kriegsrechts interniert. Trotz Haft blieb er eine Symbolfigur des Widerstands gegen das kommunistische Regime. 1990 wurde er zum Präsidenten Polens gewählt.
- Eugene V. Debs (USA): Der Sozialistenführer wurde 1918 wegen Antikriegs-Reden inhaftiert. Aus dem Gefängnis heraus kandidierte er für die US-Präsidentschaft und erhielt fast eine Million Stimmen.
- Lula da Silva (Brasilien): Der ehemalige Präsident (2003–2010) wurde 2018 in einem umstrittenen Korruptionsverfahren verurteilt und inhaftiert. Nach Aufhebung seiner Verurteilung, gewann er 2022 erneut die Präsidentschaftswahl.
- Bobby Sands (Nordirland) war ein Mitglied der Provisional Irish Republican Army (IRA) und kämpfte für die Unabhängigkeit Nordirlands von Grossbritannien. Er wurde 1977 wegen Besitzes einer Schusswaffe zu 14 Jahren Haft verurteilt inhaftiert. Aus dem Gefängnis heraus kandidierte er für das britische Unterhaus und wurde gewählt.
Die Fälle, in denen unliebsamen Politikern das passive Wahlrecht entzogen wird, häufen sich in den Ländern der «Wertegemeinschaft». Das sollte die Demokraten aller Herren Länder alarmieren. Auch die Schweiz, die sich in Dutzenden von Ländern nicht nur für die Linderung von Not und Armut, sondern auch für die Einhaltung der Menschenrechte und die Förderung der Demokratie einsetzt, sollte die Zustände in Deutschland einer kritischen Prüfung unterziehen.
