Steter Tropfen höhlt den Stein – oder die Freiheit

„Die Freiheit ist ein wundersames Tier“, heisst es in einem Lied des verstorbenen österreichischen Liedermachers Georg Danzer. Und weiter: „Man sperrt sie ein und augenblicklich ist sie weg.“ – Doch, mit der Freiheit ist es wie mit alten Soldaten, die bekanntlich nicht sterben, sondern einfach nur dahinschwinden. Die Feinde der Freiheit sind raffiniert. Sie greifen nicht zum Zweihänder. Selbst das Filettiermesser ist ihnen zu grob, sie arbeiten mit dem Skalpell. Damit tragen sie die Freiheit Schicht um Schicht ab und behaupten sogar, dies geschehe zu ihrem Schutz. Ja, selbst der Bürger, der vor die Haustüre treten will, um zu sehen, was es gibt, soll zu seiner eigenen Sicherheit entwaffnet werden. Am Ende des Weges wartet Dürrenmatts Gefängnis, in dem die Gefangenen gleichzeitig ihre Wärter sind.

Kontrolle bei Verdacht war gestern

Nirgends tritt die Staatsmacht den Bürgerinnen und Bürgern in Friedenszeiten mächtiger entgegen, als in Form der Polizei. Doch gerade hier haben sich die Gewichte in letzter Zeit eindeutig zu Ungunsten der Freiheit verschoben: Seit dem 1. Oktober 2016 gibt es in der Schweiz beispielsweise neue Alkoholmesskontrollen. Die Polizei ist heute berechtigt, diese auch dann durchzuführen, wenn bei den Verkehrsteilnehmern kein Verdachtsmoment besteht. Das ist ein bedeutender Paradigmenwechsel, der leider in der Öffentlichkeit kaum diskutiert wurde, geschweige denn, in einer Volksabstimmung sanktioniert worden wäre. Der Damm droht zu brechen.

Systematische Kontrolle bei Umzug

Der Zürcher Kantonsrat ging kürzlich bereits einen Schritt weiter: Er beantwortete die Frage, die Frage, „ob die Polizei die zur Identifikation von Personen erforderlichen Angaben in den Neuzuzugsmeldungen von Gemeinden zur Gefahrenabwehr, zur Strafverfolgung und zur Vollstreckung von Strafurteilen elektronisch abrufen sowie systematisch und automatisiert in den für die Fahndung bestimmten polizeilichen Systemen überprüfen dürfen soll“ mit ja. Ein Umzug – also eine absolut legale, alltägliche Handlung! – soll die Polizei zur Vornahme von Fahndungsmassnahmen über unbescholtene Bürgerinnen und Bürger ermächtigen. Wo liegt der Unterschied zur „systematischen und automatisierten“ Überprüfung aller, die an einem bestimmten Tag Geburtstag haben oder einen bestimmten Strassenabschnitt befahren – oder eine bestimmte Hautfarbe haben?

Die Verwaltung scheint vergessen zu haben, dass sie für die Bürger da ist und nicht umgekehrt. Vor ein paar Wochen war in der «Basler Zeitung» zu lesen, dass eine Frau seit zwei Jahren auf die Rückgabe ihres Fahrausweises wartet. Dieser war ihr entzogen worden, obwohl eine Blutalkohol-Kontrolle einen Wert von 0,0 Promille ergab. Gleichwohl hält die zuständige Administrativbehörde die Frau für eine Alkoholikerin. Die Beweislast wird kurzerhand umgekehrt, und das Amt setzt sich über die Anordnung der Staatsanwaltschaft, den Ausweis zurückzugeben, hinweg. Rechtsstaat? Fehlanzeige.

Noch bedrohlicher wird diese Machtusurpation durch nicht gewählte Behördenvertreter, wenn man sich vor Augen hält, wie willkürlich sensible Daten zwischen Ärzten, Spitälern und dem Strassenverkehrsamt herumgereicht werden. So berichtete der «Tages-Anzeiger» kürzlich wie Angaben eines Patienten über seinen Alkoholkonsum gegenüber dem ihn operierenden Arzt, via verkehrsmedizinische Abklärung an das Strassenverkehrsamt gelangten. Datenschutz? Fehlanzeige.

Strafrecht ist Freiheitsrecht

Wir müssen uns wieder bewusst werden, dass Strafrecht vom seinem Wesen her Freiheitsrecht ist, denn das Strafrecht bestimmt und regelt, unter welchen Umständen der Staat in geschützte Freiheitsrechte seiner Bürgerinnen und Bürger eingreifen darf. Es geht gerade nicht darum, den Verfolgungsbehörden die Mittel in die Hand zu geben, dass sie einfacher zu Verhaftungserfolgen kommen. Leider drohen die freiheitlichen Strafrechtsprinzipien immer mehr in Vergessenheit zu geraten.

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Erschienen im Politblog des Tages-Anzeiger.